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„Ehrenmorde sind in der syrischen Gesellschaft besonders tief verwurzelt“

„Ehrenmorde sind in der syrischen Gesellschaft besonders tief verwurzelt“
Quelle: © Kish Malek

„Mit der Kalaschnikow in der Hand blickt der Mann direkt in die Kamera. Er steht über einem verängstigten Mädchen, das um Gnade bittet. ‚Sorge dafür, dass wir eure beiden Gesichter sehen‘, sagt eine Stimme. Hinter der Kamera feuert eine weitere Stimme den Schützen an: ‚Los, Bashar, stelle deine Ehre wieder her.‘ Ohne, dass der Schütze sich weiter äußert, geht dann ein Kugelhagel auf den Körper von Rasha Bseis nieder. Erst nach neun quälenden neun Sekunden stirbt sie. Rasha war vor laufender Kamera von ihrem Bruder Bashar Bseis ermordet worden, weil es Gerüchte gab, sie habe Ehebruch begangen. Nach Ansicht ihres Bruders verdiente sie daher den Tod.

Obwohl sie wegen des langen und blutigen Kriegs einiges gewohnt sind, schockierten diese tausendfach in den sozialen Medien verbreiteten Aufnahmen der Hinrichtung viele Syrer. Es begann damit, dass ein Verehrer, den Rasha zurückgewiesen hatte, Bilder von ihr im Internet veröffentlichte. Sie wurde aus ihrer Wohnung verschleppt, in ein nur zwei Kilometer von der türkischen Grenze gelegenes Lager gebracht und dort von einem von der Türkei ausgebildeten und bewaffneten Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA) erschossen. ‚Bseis‘ Tat entspricht nicht der Ethik der Freien Syrischen Armee und widerspricht den Prinzipien der Revolution‘, erklärte Mustaja Sejari, einer der Sprecher der FSA, dazu dem Guardian gegenüber. Es würde Ermittlungen angestellt und ein Militärgericht in Dscharabulus habe einen Haftbefehl gegen Bseis erlassen. Doch auch Wochen später ist er noch nicht festgenommen worden, und es wird befürchtet, dass er als Kämpfer des FSA niemals zur Rechenschaft gezogen werden wird. (…)

‚Ehren‘-Morde gebe es zwar auch anderswo im Nahen Osten, doch seien sie in der syrischen Gesellschaft besonders tief verwurzelt und beträfen ‚nicht nur eine bestimmte Gegend, Konfession oder Fraktion‘, so die im Exil lebende syrische Autorin Loubna Mrie. Frauenrechtsgruppen gehen davon aus, dass vor dem Beginn des Krieges im Jahr 2011 jährlich rund 300 Frauen von ihren männlichen Angehörigen getötet wurden. Im Laufe des Konflikts hat die Zahl dramatisch zugenommen. Bis 2009 blieben die Täter straffrei, wenn sie ihre Tat als Ehrenmord ausgaben. Dann schaffte die Regierung das entsprechende Gesetz ab, doch wurden Ehrenmorde auch jetzt nur mit einer Haftstrafe von maximal zwei Jahren geahndet. ‚Ich erinnere mich noch, ich war neun, als ich das erste Mal in einem Video sah, wie ein Typ den Schädel seiner Schwester mit einem Stein einschlug, während das ganze Dorf zusah und Beifall spendete‘, so Mrie. Mit solchen Morden soll die Sache ein für alle Mal behoben und danach nie wieder davon gesprochen werden. So wird die Kultur des Schweigens, die die Täter schützt, fortgeschrieben. Frauen aller syrischen Kriegsparteien sind davon betroffen. Als der Konflikt 2011 ausbrach, führten Assads Soldaten eine Kampagne systematischer Massenvergewaltigungen aus, mit der sie Bevölkerungsgruppen erfolgreich einschüchterten, doch setzten sich Soldaten verschiedentlich auch ab und schlossen sich der im Aufbau begriffenen Freien Syrischen Armee an.

Bis heute genießen Frauen in den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten kaum institutionellen Schutz. ‚Es herrscht Anarchie und die Traditionen und Bräuche und die einzelnen Fraktionen bestimmen alles‘, so Ola Marwa, die bei der im Norden Syriens tätigen Organisation Women Now for Development für Sicherheitsfragen zuständig ist. Infolge einer Kultur der Scham trauen Frauen sich selten, über sexuelle Gewalt zu berichten. Selbst wenn sie es tun, gibt es kaum Möglichkeiten, sie zu unterstützten, denn ‚es gibt keine Behörden oder Gesetze, auf die man sich wirklich verlassen könnte‘, erläutert Marwa. ‚Es ist schwierig, das Bewusstsein der Menschen in Bezug auf eine Besserstellung der Frauen im Kampf gegen sexuelle Gewalt zu ändern. Jeder Versuch, das Thema anzusprechen, wird als Angriff auf ihre Kultur betrachtet.‘“ (Shawn Carrie / Asmaa Alomar: „‚They see no shame‘: ‚honour‘ killing video shows plight of Syrian women“)

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