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documenta fifteen: Das Elend geht weiter

Antisemitismus hin oder her, bei der documenta geht die Party weiter, als sei nichts geschehen. (© imago images/Hartenfelser)
Antisemitismus hin oder her, bei der documenta geht die Party weiter, als sei nichts geschehen. (© imago images/Hartenfelser)

Die Skandale nehmen kein Ende, doch von Seiten der documenta kommen nur »Kontextualisierung« genannte Verharmlosungen antisemitischer Machwerke.

Die Kritik an der documenta wegen der antisemitischen Exponate reißt nicht ab, doch ihr Geschäftsführer tut weiterhin so, als wäre nichts Schlimmes passiert. Während die jüdische Gemeinschaft darüber fassungslos ist, verharmlosen Künstlergruppen den Antisemitismus durch »Kontextualisierung«. Ernsthafte Konsequenzen sind weiterhin nicht in Sicht.

Die diesjährige documenta habe »seine kühnsten Albträume übertroffen«, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, kürzlich in einem Interview dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Man habe bereits im Frühjahr die Sorge geäußert, dass es bei der Kunstschau zu israelbezogenem Antisemitismus kommen könnte. Anlass dafür waren in verschiedenen Medien aufgegriffene Recherchen des Bündnisses gegen Antisemitismus Kassel, die ergaben, dass es unter anderem bei den Kuratoren des Künstlerkollektivs Ruangrupa einige Sympathien für die antisemitische BDS-Bewegung gibt. Gleichwohl habe Kulturstaatsministerin Claudia Roth, so Schuster, bei einem Gespräch im Mai versichert, es würden bei der documenta keine antisemitischen Exponate auftauchen.

Das erwies sich bekanntlich als völlig falsch, was den Zentralratspräsidenten zu dem Schluss brachte, Roth sei vielleicht »zu blauäugig« gewesen und »hintergangen worden«. Die Kulturstaatsministerin selbst sagte: »Vielleicht hätte ich bei den Diskussionen im Vorfeld der documenta-Eröffnung lauter und deutlicher sein sollen, sein müssen.« Antisemitische Darstellungen ließen sich nicht durch den Verweis auf die Herkunftsländer der Künstler relativieren, so Roth weiter: »Antisemitismus ist und bleibt Antisemitismus, ob in Indonesien, in der Türkei oder sonst wo.« Zur Erinnerung: Den gegen BDS gerichteten Bundestagsbeschluss vom Mai 2019 lehnte die Grünen-Politikerin ab. Dabei zeigt sich gerade mit Blick auf die documenta, wie richtig und wichtig er war und ist.

Das sieht offenkundig auch Olaf Zimmermann so, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Der Rat ist der Spitzenverband der Bundeskulturverbände und Ansprechpartner der Politik in kulturpolitischen Angelegenheiten. Es gebe »bei nicht wenigen Kulturschaffenden große Sympathien für die BDS-Bewegung«, die den Boykott von israelischen Künstlern fordere und versuche, ihn auch durchzusetzen, so Zimmermann im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen. Wer es mit der BDS-Bewegung halte, sei »für die Ausgrenzung von Künstlerinnen und Künstlern und deshalb gegen Kunstfreiheit«. Auch wer antisemitische Kunst produziere oder ausstelle, könne sich nicht auf die Kunstfreiheit berufen. Es gebe »eine verquere Debatte über Kolonialismus versus Antisemitismus, bei der der Kampf gegen den Antisemitismus zunehmend in den Hintergrund gedrängt wird«.

documenta-Chef sorgt für Fassungslosigkeit

Diesen deutlichen Worten stehen die jüngsten Äußerungen des Interimsgeschäftsführers der documenta, Alexander Farenholtz, entgegen. Dieser ist allen Ernstes der Ansicht: »Die Zahlen sind sehr gut, die Stimmung auch. Ich glaube, dass die documenta als Ausstellung auf einem hervorragenden Kurs ist.« Ein erstaunliches Urteil, wenn man bedenkt, wie deutlich und schwerwiegend die Kritik an den antisemitischen Exponaten auf der Kunstschau ist. Doch zum Antisemitismus möchte sich Farenholtz gar nicht äußern, »weil ich nicht die nötige Expertise dazu habe«. Er fühle sich »nicht berufen und kompetent zu sagen, was Antisemitismus genau ist und was nicht«, von der Kritik fühle er sich daher »nicht angesprochen«. Zu den kritisierten Kuratoren von Ruangrupa habe er »ein herzliches Verhältnis«.

»Fassungslos« machten ihn Farenholtz’ Worte, sagte Benjamin Graumann, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, der Jüdischen Allgemeinen. Wer sich trotz der Skandale so äußere, »hat sich mit den Vorfällen entweder nicht beschäftigt oder leidet unter Realitätsverlust«. Der Wechsel an der Spitze der documenta-Geschäftsführung nach dem Rücktritt von Sabine Schormann sei »kein Befreiungsschlag, sondern definitiv ein Eigentor« gewesen, so Graumann weiter. Sei Fazit lautet: »Nichts gelernt und nichts verstanden!« Die documenta stehe »für einen staatlich geförderten und tolerierten Antisemitismus«, weshalb sie »angesichts der permanenten Verweigerungshaltung der Verantwortlichen, etwas zu ändern, auch nicht mehr zu retten ist«.

Wissenschaftler merklich irritiert

Inzwischen hat der Aufsichtsrat der documenta sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen berufen, die sich um die Aufarbeitung der bisherigen Fälle von Antisemitismus kümmern und prüfen sollen, ob es womöglich weitere gibt. Trotzdem fand documenta-Chef Farenholtz, es bestehe »keine Veranlassung für eine generelle Prüfung« und auch nicht für die Entfernung antisemtischer Kunstwerke. Die berufenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigten sich dann auch »irritiert, dass die Leitung der documenta […] in dem Moment, in dem das Gremium eingesetzt wird, das ihre Arbeit begleiten soll, wesentliche Fragen des Umgangs mit antisemitischer Kunst festzulegen scheint«. Man behalte sich vor, eine eigene Position zu formulieren. Zu Recht sei die öffentliche Präsentation antisemitischer Werke und der Umgang damit als empörend empfunden worden, vor allem von der jüdischen Gemeinschaft, erklärten die fachwissenschaftlichen Begleiter weiter. Man werde sich deshalb »dafür einsetzen, dass jüdische Perspektiven bei der Aufarbeitung der Vorgänge bedacht und eingebunden werden«.

Der documenta selbst sind diese Perspektiven aber weiterhin nicht so wichtig, sie lässt lieber die Kuratoren und Künstler erklären, dass alles nur ein Missverständnis sei und die Kritiker irrten. »Eindeutig nicht antisemitisch« seien die Bilder in der kritisierten Broschüre eines algerischen Frauenkollektivs aus dem Jahr 1988, verkündeten Ruangrupa und das künstlerische Team. Die Kritik beruhe auf einer »Fehlinterpretation«. Dabei zeigen die Zeichnungen in der Broschüre beispielsweise einen israelischen Soldaten mit Hakennase im Stürmer-Stil und Soldaten mit Davidstern auf dem Helm als Roboter mit entblößten Zähnen. Für Ruangrupa repräsentieren diese Bilder jedoch lediglich die Propagandakunst der damaligen Zeit »und den Standpunkt der Palästinenserinnen und Palästinenser gegenüber der militärischen israelischen Besatzung«.

»Kontextualisierung« als Ausrede

Auf keinem der Bilder würden »Menschen jüdischen Glaubens abstrakt dargestellt«, glauben die indonesischen Künstler. Es handle sich vielmehr um Darstellungen von israelischen Soldaten mit eindeutigem Bezug zur israelischen Flagge. Auch das Kollektiv »Archives des luttes des femmes en Algérie« (»Archive der Frauenkämpfe in Algerien«), das die Broschüre auf der documenta ausgestellt hat, will keinen Antisemitismus entdecken. In einem mehrseitigen Papier, das nun ebenfalls aufliegt und eine »Kontextualisierung« der Broschüre darstellen soll, heißt es, nicht Juden als Einzelpersonen oder als Gemeinschaft würden kritisiert, sondern die israelische Armee. Es gehe um »von zionistischen Milizen begangene Massaker«, um »den Exodus der Palästinenser während der Nakba« und um die »palästinensischen Volksaufstände«. Gezeigt würden »historische Dokumente, die zunächst einmal auch als solche verstanden werden sollten«.

Auf die antisemitische Bildsprache, die eindeutig an die bekannten diesbezüglichen Vorbilder aus Europa angelehnt ist, geht die Erklärung nicht ein. Und deshalb hat Volker Beck, der neue Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, auch Recht, wenn er sagt: »Die Kontextualisierung der Künstler ist keine, es ist eine Ausrede. Die Kontextualisierung erklärt nichts, sie erklärt auch nicht die Hakennase des IDF-Soldaten. Es ist und bleibt eine antisemitische Ikonografie.« Schon vorher hatte Beck in einem Brief an den hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein geschrieben, die documenta sei zu einer »Plattform für Propaganda« verkommen. Die Ausstellung leiste der Normalisierung von Antisemitismus in der deutschen Öffentlichkeit Vorschub.

Die Hauptverantwortung dafür »beginnt bei der Geschäftsführung der documenta, reicht über den Aufsichtsrat bis hin zu den verantwortlichen Politikern«, wie Benjamin Graumann zutreffend befindet. »Benennen wir es klar: also Sabine Schormann, Alexander Farenholtz sowie Christian Geselle oder Claudia Roth.« Doch nur Schormann musste bislang gehen, und dass es bis zum Ende der documenta weitere personelle Konsequenzen geben wird, scheint unwahrscheinlich. Dass Juden Albträume haben, sorgt in Deutschland nicht für jenen politischen Druck, der erforderlich wäre, um (weitere) Rücktritte zu erwirken. Und das sagt eine Menge aus über ein Land, das sich seine »Vergangenheitsbewältigung« und sein »Nie wieder!«-Bekenntnis immer wieder stolz zugutehält.

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