Die Schriftstellerin Eva Menasse hält die Antisemitismus-Debatte in Deutschland für eine »fehlgeleitete, hysterische Pein«. Sie werde von Israelfreunden dominiert, die einem »völlig irregegangenen Moralismus« frönten; die antisemitische BDS-Bewegung hält sie dagegen für harmlos. Dabei legt diese genau jenen inquisitorischen Eifer und jenen Rigorismus an den Tag, den Menasse bei deren Kritikern ausmacht.
Ein bisschen paradox ist es schon, wenn in einem ziemlich aufgeregten Text über die deutsche Antisemitismus-Debatte gleich zu Beginn angemerkt wird, eben diese Debatte sei »voller Aufgeregter«. Die Schriftstellerin Eva Menasse, die einen solchen Text verfasst hat und unlängst in der Wochenzeitschrift Die Zeit veröffentlichen durfte, zählt sich selbst vermutlich nicht zu diesen Aufgeregten; vielleicht ist es aber auch einfach so, dass sie ihre eigene Aufregung für berechtigt hält und die vermeintliche Aufregung anderer, die sie »Symbolpolitiker« nennt, eben nicht. »Symbolpolitiker«, das sind für Menasse die Israelfreunde, die in ihren Augen allenthalben die »Antisemitismus-Keule« schwingen, einem »völlig irregegangenen Moralismus« frönen sowie »den Diskurs in weiten Teilen unter ihre Kontrolle gebracht und ihr Publikum infiziert« haben.
»In den religiösen Wahn verabschiedet« hätten sich diese Leute, schreibt Menasse, sie seien »Priester gegen den Antisemitismus«, und ihre Zahl sei »in den letzten Jahren so angewachsen wie die Chanukkaleuchter im öffentlichen Raum«. Eine regelrechte Volksfront will die Autorin ausgemacht haben, eine »Mannschaft«, die »von weit rechts« (Springer-Medien, FAZ) über »furiose Linke und Ex-Linke« (Die Zeit, taz, Der Spiegel) bis zu den »sogenannten Antideutschen« reiche. Letztere verortet sie allen Ernstes auch beim liberalen Perlentaucher – dessen Mitbegründer Thierry Chervel hat diese Etikettierung umgehend als »Humbug« zurückgewiesen.
Sie alle, glaubt Eva Menasse, legten einen besonderen Rigorismus bei der politischen und moralischen Verteidigung des jüdischen Staates sowie bei der Kritik des israelbezogenen Antisemitismus an den Tag. Um den »strafrechtlich relevanten Antisemitismus« von rechts außen kümmerten sie sich dagegen nicht, obwohl dieser zu Angriffen und Körperverletzungen führe und »kein Literaturhaus- oder Vernissage-Geplauder« sei, als das die Schriftstellerin den Hass auf Israel verharmlost. Die umfangreichen Recherchen des Kasseler »Bündnisses gegen Antisemitismus« zur Beteiligung von BDS-Unterstützern an der Kasseler Kunstausstellung Documenta etwa findet sie irrelevant. In einer grotesken Überhöhung dieses Zusammenschlusses glaubt sie, die mediale Diskussion über die Kunstschau gehe auf eine »kleine Gruppe von rigorosen Einpeitschern« zurück.
Die Verheerungen durch die BDS-Bewegung sieht Menasse nicht
Es ist so bemerkenswert wie bezeichnend, dass Menasse die »Israelkritiker« für Opfer einer anti-antisemitischen Inquisition hält, während sie auf den tatsächlich inquisitorischen Eifer der BDS-Aktivisten und anderer Antizionisten mit keinem Wort eingeht. In Verkennung der Wirklichkeit behauptet sie, wer »die israelische Siedlungs- oder Besatzungspolitik« kritisiere, werde in Deutschland »sofort diffamiert«, das »erbärmliche Leid der Palästinenser« dagegen werde kaum einmal thematisiert, und wem öffentlich Antisemitismus vorgehalten werde, dem ergehe es wie einem, den man der Kinderschändung verdächtige. Dass in deutschen Medien kein Land so oft und so schrill an den Pranger gestellt wird wie Israel, will Menasse nicht sehen.
Und auch nicht, welche Verheerungen die BDS-Bewegung anrichtet, wenn man sie gewähren lässt. Dort, wo sie ihre Hochburgen hat, an britischen Universitäten etwa, stürmen ihre Adepten regelmäßig Veranstaltungen mit israelischen Dozenten und bringen sie an den Rand des Abbruchs, sie drangsalieren jüdische Studierende und schaffen ein Klima der Einschüchterung, sie setzen ein Ende der Kooperation mit israelischen Einrichtungen durch. In Deutschland ist der organisierte BDS-Aktivismus bislang schwächer als in Großbritannien, aber wo immer er auftritt, präsentiert er sich nicht minder rigoros.
Dass man auch diese Form des Antisemitismus nicht stärker werden lassen will, ist eine richtige Entscheidung, und deshalb war und ist der Beschluss des Deutschen Bundestages vom Mai 2019, der BDS-Bewegung keine öffentlichen Räume und Mittel zu überlassen, vollkommen angemessen. Nicht nur Eva Menasse klagt nun darüber, dass diese Resolution die »Kulturarbeit enorm verkompliziert« – was allerdings vor allem über den Kulturbetrieb eine Menge aussagt. Wenn der nur reibungslos verläuft, indem Israelhasser auf Staatskosten ungehindert agieren können, dann ist er Teil eines erheblichen Problems.
Antisemitismus äußert sich nicht nur in Straftaten
Der Anti-BDS-Beschluss des Bundestages verhindere »keine einzige antisemitische Straftat«, ist Eva Menasse überzeugt. Unterhalb der staatlich definierten Legalitätsgrenze ist Antisemitismus für sie kaum der Rede wert. Dass und warum eine solche Grenzziehung vor allem für Jüdinnen und Juden ein großes Problem ist, scheint Menasse nicht weiter zu beschäftigen. Dabei ist nicht erst dann eine Grenze überschritten, wenn gegen Gesetze verstoßen wird – nicht zuletzt aus diesem Grund gibt es inzwischen eine bundesweite Struktur von zivilgesellschaftlich organisierten Meldestellen, die auch antisemitische Vorfälle erfassen, die womöglich nicht justiziabel sind, aber dennoch großen Schaden anrichten, Menschen verletzen und eine Ächtung zur Folge haben müssen.
Diese Meldestellen registrieren auch israelbezogenen Antisemitismus, wie er sich beispielsweise im Mai 2021 äußerte, als die Hamas den jüdischen Staat wieder einmal mit Raketen angriff und Israel darauf mit militärischen Gegenschlägen reagierte. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) und das Internationale Institut für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung (IIBSA) veröffentlichten im vergangenen Jahr eine Broschüre, in der festgehalten wurde, im Zeitraum der kriegerischen Auseinandersetzung seien in Deutschland insgesamt 261 antisemitische Vorfälle dokumentiert worden, mehr als 16 pro Tag:
»Die 261 Vorfälle umfassten 10 Angriffe, 22 gezielte Sachbeschädigungen, 18 Bedrohungen, 204 Fälle von verletzendem Verhalten und 7 Massenzuschriften. Bei 76 Fällen von verletzendem Verhalten handelte es sich um antisemitische Inhalte, die im Kontext der antiisraelischen Versammlungen auf Schildern oder als Parolen verbreitet wurden. Insgesamt waren bei bekannt gewordenen Vorfällen 67 Jüdinnen_ Juden oder Personen, die als solche wahrgenommen oder adressiert wurden, in ihrem Alltag betroffen, auch in den sozialen Medien. Vorfälle von Angesicht zu Angesicht traten in Alltagssituationen auf, in denen Jüdinnen_Juden als solche erkennbar waren. Die Dynamik führte schon früh zu körperlicher Gewalt.«
Doch nicht diese erschreckenden Zahlen und Vorfälle sind für Eva Menasse das Problem, sondern ein angeblicher »Kulturkampf voller Leidenschaft und Provinzialität«, den sie beispielsweise in der Kritik an der »Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus« ausgemacht hat. Dabei war diese Kritik nur allzu berechtigt angesichts der Tatsache, dass die Urheber und Unterzeichner der Erklärung vor allem eines im Sinn hatten: den Hass auf Israel kleinzureden und ihn vom Stigma des Antisemitismus zu befreien. Menasse höhnt zudem über »keifende Kommentatoren, die noch nie in den besetzten Gebieten waren«, und über die Antisemitismusbeauftragten des Bundes und der Länder, die sie für »Symbolpolitiker schlechthin« hält.
Die übliche Attitüde der »Israelkritiker«
Als sich große, staatlich alimentierte Kultureinrichtungen Ende des Jahres 2020 zur »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« zusammenschlossen und in einem Text über die angeblichen Einschränkungen ihrer künstlerischen Freiheit klagten, die der Anti-BDS-Beschluss des Bundestages mit sich bringe, gab es einige Kritik, aber auch reichlich Unterstützung und viel Raum für ihre Positionen in großen Medien. Eva Menasse jedoch ist der Ansicht, »das Feuilleton« sei »fast geschlossen über ›Weltoffenheit‹ hergefallen« und habe damit »alle seriösen Experten, die Deutschland ja besitzt und gerade so dringend brauchen würde (Nahost-erfahrene Kulturvermittler, renommierte Antisemitismus- und Rassismusforscher), mit einem Streich aus dem Spiel genommen«.
Einmal abgesehen davon, dass diese Einschätzung ein schlagendes Beispiel für selektive Wahrnehmung ist, spiegelt sich hier die übliche Attitüde der »Israelkritiker« wider: Sie empfinden bereits Kritik und Widerspruch als Affront, ja, als Maulkorb. In einer »halbwegs normalen Welt«, von der Menasse »manchmal noch träumt«, diskutierten »wie früher« – das heißt: als der israelbezogene Antisemitismus noch nicht thematisiert und kritisiert wurde, was Menasse anscheinend für »normal« hält – »Wissenschaftler und Künstler in geschützten Räumen […] auch über die palästinensische Zivilbevölkerung, die täglich von gewalttätigen Siedlern terrorisiert wird«.
In einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung Der Standard hat Deborah Hartmann, die Leiterin des Berliner Hauses der Wannsee-Konferenz, deutliche Worte zu diesen Ausführungen von Menasse gefunden:
»Jede Kritik an Antisemitismus scheint bei ihr undifferenziert und unbegründet zu sein. Damit bildet ihr Beitrag aber einen Teil genau jener Debatte, die den Grad der Undifferenziertheit immer beim anderen sucht. Auch wenn sie sich vor allem mit der deutschen Debatte beschäftigt, zeigt sich diese Undifferenziertheit, indem sie von ›der‹ palästinensischen Zivilbevölkerung schreibt, von ›den‹ jüdischen Siedlern, die jeden Tag Gewaltverbrechen an Palästinensern verüben. Solche Verallgemeinerungen sind Teil des Problems.«
Klischees und Verzerrungen
Eva Menasse ärgert sich auch über »empörte deutsche Aktivisten«, die Flugblätter verteilen, wenn bei großen Veranstaltungen das Bild von den erbarmungslosen Israelis und den erbarmungswürdigen Palästinensern gezeichnet wird. So wie im März 2018 in Köln, als auf dem Kölner Literaturfestival lit.Cologne die Anthologie Oliven und Asche vorgestellt wurde, zu der 26 Schriftstellerinnen und Schriftsteller, darunter auch Menasse, jeweils einen Text beigesteuert hatten. Das Kölner Bündnis gegen Antisemitismus hatte das Buch seinerzeit in einer Flugschrift kritisiert. Es bestehe aus »literarischen Momentaufnahmen von herzlosen Israelis und gedemütigten Palästinensern«, strotze vor Klischees und verzerre die Realität:
»Man bekommt die immer gastfreundlichen, gutherzigen und leidenden Palästinenser und im Gegensatz dazu grausame israelische Sicherheitskräfte und furchtbare Bedingungen an den Grenzübergängen. Was garantiert nicht vorkommt: Die durch und durch korrupten Regime von Hamas und Fatah, unter denen die palästinensische Bevölkerung eben mindestens genauso sehr leidet, und die nicht das geringste Interesse an einer friedlichen Einigung mit Israel haben. Selbst die Erwähnung palästinensischen Terrors, wie z. B. die zahlreichen Raketenangriffe auf israelische Ortschaften, wird offensichtlich als gänzlich irrelevant für ein besseres Verständnis des Konflikts erachtet. Sogar die Terroristen, die als Teil der ›Messerintifada‹ an Mordanschlägen auf israelische Zivilisten beteiligt waren, werden zu Opfern der israelischen Justiz umgelogen.«
Es gibt keinen »moderaten« Antisemitismus
Unfreiwillig zeigt Eva Menasse in ihrem Beitrag in der Zeit auf, warum die deutliche Kritik des israelbezogenen Antisemitismus keineswegs der Ausdruck eines »völlig irregegangenen Moralismus« ist, sondern eine bittere Notwendigkeit. »Die meisten moderaten Palästinenser« sympathisierten »mit der BDS-Bewegung«, schreibt sie, und »die weniger moderaten sind halt für Hamas«. »Moderat« ist demnach die Unterstützung einer antisemitischen Bewegung, die für ein Ende Israels eintritt und das durch Boykotte, Desinvestionen und Sanktionen sowie die »Rückkehr« von mehr als fünfeinhalb Millionen Palästinensern in ein Land, in dem sie nie gelebt haben, erreichen will. »Weniger moderat« – was für ein Euphemismus – ist eine antisemitische Organisation, die sich die Vernichtung Israels durch Terror auf die Fahnen geschrieben hat.
Die Zerstörung des einzigen jüdischen Staates haben sich die einen wie die anderen zum Ziel gesetzt; die Meinungsverschiedenheiten drehen sich allenfalls um die Wahl der Mittel. Einen »moderaten« Antisemitismus gibt es nicht, auch BDS stellt einen Angriff auf das Judentum dar und nicht »nur« – was schlimm genug wäre – auf Israel. Was von dieser Bewegung ausgeht, ist mitnichten bloß »Literaturhaus- oder Vernissage-Geplauder«, wie Eva Menasse meint. Was die Schriftstellerin stört, ist, wenn genau das ausgesprochen und der »Antizionismus« damit als das kenntlich gemacht wird, was er ist: eine Ideologie, die Israel zum »Juden unter den Staaten« macht und mit Kritik nichts gemein hat, mit dem antisemitischen Ressentiment hingegen eine ganze Menge.