Die schwindende christliche Gemeinde von Bethlehem

Der Hauptplatz von Bethlehem mit dem Weihnachtsbaum
Der Hauptplatz von Bethlehem mit dem Weihnachtsbaum (© Imago Images / Sipa USA)

Die zunehmende Auswanderung seit der Machtübernahme der Palästinensischen Autonomiebehörde und Islamismus sind die Hauptsorgen einer schrumpfenden Bevölkerung.

Judy Lash Balint

Oberflächlich betrachtet sind die Weihnachtsvorbereitungen in der Region Bethlehem nach zwei trostlosen Pandemiejahren wieder in vollem Gang. 

In Beit Sahour etwa, einer kleinen, an Bethlehem grenzenden Stadt, von der die Christen glauben, Engel hätten dort die Geburt Jesu angekündigt, ziert Weihnachtsschmuck fast jedes Geschäft. Auf dem Gelände der Shepherd’s Field Chapel gehen Reisegruppen ein und aus, und die öffentliche Zeremonie zum Start der Weihnachtsbaumbeleuchtung auf dem Hauptplatz war eine lebhafte und gut besuchte Veranstaltung.

Aber die Christen, die im Gebiet von Bethlehem unter der Herrschaft der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) leben, führen ein kompliziertes Leben. Viele von ihnen sind bestrebt, in der einzigen Zeit des Jahres, in der die Aufmerksamkeit der Welt auf ihr hügeliges Gebiet knappe zehn Kilometer südlich von Jerusalem gerichtet ist, ihre auf ihre Anliegen und Probleme hinzuweisen.

Bevölkerungsrückgang

Die schwindende christliche Gemeinde von Bethlehem
Der Hauptplatz in Beit Sahour mit dem Weihnachtsbaum. (Quelle: Judy Lash Balint / JNS)

Der 74-jährige Samir Qumsieh ist ein bekannter Gemeindeleiter, der Al Mahd Nativity TV, den einzigen christlichen Fernsehsender in den palästinensischen Gebieten, betreibt. Im Jahr 2010 wurde sein Sender von der Palästinensischen Autonomiebehörde geschlossen, durfte aber später wieder in Betrieb gehen. 2006 beklagte Qumsieh sich über Morddrohungen und Einschüchterungsversuche; sein Haus wurde mit Molotowcocktails beworfen. Heute weist er Journalisten, die ihn besuchen, darauf hin, wie wichtig ist, ihn ganz exakt und ja nicht falsch zu zitieren, da dies für ihn »lebensbedrohlich sein könnte«.

Als junge Muslime vor zwei Monaten eine Kirche in der Stadt angriffen, »schickte PA-Präsident Mahmoud Abbas jemanden, der das Problem löste«, sagt Qumsieh, der sich hinzuzufügen beeilt, die Christen würden »als Minderheit nicht verfolgt«. Angesichts des bevorstehenden Weihnachtsfestes hat Qumsieh zwei große Sorgen: die Auswanderung der christlichen Bevölkerung und die Zunahme des islamischen Extremismus. Er schätzt, dass es aktuell nur noch 33.000 Christen in den drei Städten der Region Bethlehem gibt.

In Bethlehem ist nur noch einer von fünf Einwohnern Christ, was einen starken Rückgang bedeutet, seit die Stadt 1995 unter die Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde gestellt wurde. Damals bezeichneten sich noch achtzig Prozent der Einwohner als christlich. In Beit Jala ist die christliche Mehrheit von 99 auf 61 Prozent gesunken. In Qumsiehs Heimatstadt Beit Sahour machen die dort lebenden 12.000 bis 13.000 Christen heute etwa 65 Prozent der Bevölkerung aus, verglichen mit 81 Prozent vor einigen Jahrzehnten.

Qumsieh, der nach eigenen Angaben einer der größten christlichen Familien im Heiligen Land angehört, spricht über die Gründe für die Auswanderung im selben Atemzug, in dem er die Zunahme des religiösen Fundamentalismus beklagt. »Vielen jungen Menschen gefällt das Leben hier nicht, und sie gehen aus wirtschaftlichen Gründen fort«, sagt er. 

Einer seiner Söhne studiert in den Vereinigten Staaten, lernte eine Amerikanerin kennen, heiratete und beschloss, in Amerika zu bleiben. Von seinen sechs Geschwistern mit Hochschulbildung ist Qumsieh der einzige, der in Beit Sahour geblieben ist. Neben den schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen sei die niedrige Geburtenrate bei den Christen ein weiterer Grund für den demografischen Rückgang, meint er.

Was den Extremismus anbelangt, »macht die Palästinensische Autonomiebehörde auf offizieller Ebene keine Probleme, aber in der Bevölkerung gibt es den Einfluss des Islamischen Staates. Es ist nicht mehr das Beit Sahour, das ich kenne. Die Dinge haben sich völlig verändert.« 

Qumsieh ist besonders hellhörig für den Einfluss des fundamentalistischen Islam, da er aus einer wohlhabenden christlichen Familie in Kuwait stammt, die nach der Invasion von Saddam Hussein im Jahr 1990 geflohen ist. »In unserer Gesellschaft hat sich ein großer Wandel vollzogen. Vor der Übernahme des Gazastreifens durch die Hamas im Jahr 2005 gab es hier fünftausend Christen, jetzt sind es kaum noch sechs- bis siebenhundert. Es wird eine Katastrophe sein, wenn es im Land Jesu keine Christen mehr gibt. Wer wird sich um die Kirchen kümmern?«, sorgt sich Qumsieh.

Hier, um zu bleiben

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Der Bürgermeister von Beit Sahour, Hani al-Hayek. (Quelle: Judy Lash Balint / JNS)

Eine Stunde vor der Zeremonie zum offiziellen Entzünden der Beleuchtung des Weihnachtsbaums auf dem Stadtplatz erklärt der christliche Bürgermeister von Beit Sahour, Hani al-Hayek, den Besuchern seine Besorgnis über den Bevölkerungsschwund. Mehr als zwanzigtausend Palästinenser, darunter auch Mitglieder seiner Familie, leben in Chile, erzählt al-Hayek.

Der Bürgermeister räumt zwar ein, dass die Auswanderung bereits in den 1890er Jahren begann, macht für die derzeitige Abwanderung aber den Status von Beit Sahour als Teil der Palästinensischen Autonomiebehörde seit den Osloer Verträgen von 1993 und die israelische Sicherheitsbarriere verantwortlich, die vor zwanzig Jahren um Jerusalem errichtet wurde.

»Wir sind hier, um in unserem Land zu bleiben, und wir müssen die Menschen ermutigen zu bleiben, aber sie brauchen Sicherheit für ihre Zukunft. Wir wollen unsere Freiheit und Unabhängigkeit, um unsere Träume als Palästinenser zu verwirklichen«, erklärt er. »Das Land ist das Wichtigste«, fügt er hinzu und verweist auf die physischen Barrieren und die israelischen Gemeinden, die die Stadt umgeben und eine Expansion verhindern.

Al-Hayek weist darauf hin, dass die wichtigsten Wirtschaftszweige in Beit Sahour der Tourismus sowie die mehr als hundert Olivenholz- und Perlmuttwerkstätten sind, die hochwertige Produkte herstellen, deren Hauptabsatzmarkt Kirchen in Amerika seien.

Die schwindende christliche Gemeinde von Bethlehem
Yasar Barham in seinem Laden in Beit Sahour. (Quelle: Judy Lash Balint /JNS)

Yasar Barham, Besitzer einer Fabrik in einer ruhigen Straße in Beit Sahour, begrüßt die Besucher vor einem auffälligen Bild von Jassir Arafat, das hinter der Theke hängt. Viele der ausgestellten Gegenstände tragen das Logo des »Staates Palästina, Ministerium für Tourismus und Altertümer«. 

Auf allen wunderschön gestalteten und verzierten Reliefkarten Israels und der Westbank im Laden prangt über die gesamte Länge und Breite des Territoriums das Wort »Palästina«. Yasar Barham meint, dass »Arafat gut für jeden Palästinenser war, Mahmoud Abbas ist es aber auch«. »Die Situation der Christen hier ist sehr gut«, meint Barham. »Wir haben uns schon an die Besatzung gewöhnt. Es ist sehr schlimm, aber man kann nichts dagegen tun.«

Jamil Jaraisy, 82 Jahre alt und aus einem großen christlichen Clan, zu dem auch Ramiz Jaraisy, ein ehemaliger Bürgermeister von Nazareth gehört, sagt, »die israelische Besatzung hat unser Leben verändert«. Früher habe man den Zweig der Familie in Nazareth ungehindert besuchen können, doch »heute beeinträchtigt die Einschränkung der Bewegungsfreiheit unsere Weihnachtsfeiern«. Jaraisy gibt auch der Palästinensischen Autonomiebehörde die Schuld, die »nach Oslo nichts getan hat, um uns als Gemeinschaft zu unterstützen«.

Seine Familie lebt seit dem 13. Jahrhundert in Beit Sahour. »Wir sind Söhne des Landes«, sagt er: In der Vergangenheit hätten die Christen gute Beziehungen zu ihren muslimischen Nachbarn gehabt, aber nach der iranischen Revolution von 1979 hätten sie begonnen, »Spannungen« in den Beziehungen zu ihnen zu spüren. 

Während des Gesprächs forderte Jaraisys Frau ihn auf, von ihrem Sohn zu erzählen, der nach einem Geschäftsstreit mit einem Muslim aus Hebron im Jahr 2014 für vierzig Tage entführt, in der Gefangenschaft gefoltert und mit Kopfwunden freigelassen worden war. »Die Palästinensische Autonomiebehörde hat nichts getan, um zu helfen«, beklagt sie sich. »Der [Hebroner] Geschäftsmann verschwand, mein Sohn war traumatisiert und lebt jetzt in Deutschland.«

Sorgen der Christen

Die schwindende christliche Gemeinde von Bethlehem
Pfadfinder in Beit Sahour spielen Weihnachtslieder (Quelle: Judy Lash Balint / JNS)

Die Ergebnisse einer Umfrage des Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR) vom Februar 2020 unter palästinensischen Christen in der Westbank und dem Gazastreifen geben weitere Einblicke in die Abwanderung. 62 Prozent der Befragten gaben an, Israels Ziel sei es, die Christen aus ihrer Heimat zu vertreiben. 77 Prozent meinten, die Präsenz fundamentalistischer Salafisten beunruhige sie, 69 Prozent waren besorgt über bewaffnete Gruppierungen wie die Hamas, und 67 Prozent sorgten sich über die mögliche Einführung des Scharia-Rechts. Etwa 43 Prozent glauben, die Muslime wollten keine Christen im Land.

Der Direktor des PSR, Khalil Shikaki, analysierte die Daten und meinte, der größte Teil der Befragten gebe an, »ihr Wunsch, auszuwandern, resultiere aus wirtschaftlichen Gründen, während ein kleinerer Prozentsatz angibt, im Ausland nach Bildungsmöglichkeiten, sichereren, stabileren und weniger korrupten Verhältnissen sowie einem Ort suchen zu wollen, der größere Freiheiten und religiöse Toleranz zulässt.«

Unterdessen marschieren Hunderte von jugendlichen Pfadfindern in mit der palästinensischen Flagge geschmückten Uniformen durch die Stadt und spielen traditionelle Weihnachtslieder. Ihre bevorzugten Instrumente sind Trommeln aller Art, begleitet von schottischen Dudelsäcken. Sowohl die Pfadfinder als auch die Dudelsäcke sind ein Erbe der britischen Mandatsmacht, aber irgendwie sind sie zur traditionellen Begleitung der Weihnachtsfeiern in der Gegend von Bethlehem geworden. 

Als die Musik verklingt, nutzt Hani al-Hayek die Gelegenheit, um eine lange Rede zu halten, in der er die »Besatzung« anprangert und die jüngsten »Märtyrer« (drei bewaffnete Palästinenser, die an diesem Tag bei einer IDF-Operation zur Beseitigung von Terroristen in Dschenin getötet wurden) preist, bevor er das Signal zum Entzünden der Lichter des sechs Meter hohen Weihnachtsbaums der Stadt gibt.

(Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News SyndicateÜbersetzung von Alexander Gruber.)

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