Latest News

Die Alles-oder-Nichts-Strategie der Hamas

Israelischer Luftschlag gegen Hamas-Einrichtung im Gazastreifen
Israelischer Luftschlag gegen Hamas-Einrichtung im Gazastreifen (© Imago Images / ABACAPRESS)

Die Hamas lehnt ein Teilabkommen ab, da sie das Überleben ihres Regimes im Gazastreifen durch ein vollständiges Abkommen anstrebt, das den Krieg sofort beendet.

Yaakov Lappin

Die Weigerung der Hamas, das jüngste israelische Teilangebot für einen Waffenstillstand und die Freilassung von etwa zehn israelischen Geiseln anzunehmen, ist ein kalkulierter Versuch, ihr langfristiges Überleben zu sichern, indem Israel gezwungen wird, den Krieg zu den Bedingungen der Terrorgruppe zu beenden, erklärten ehemalige israelische Verteidigungsbeamte in den vergangenen Tagen. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes stehe eine islamistisch-dschihadistische Ideologie, die auf die Zerstörung Israels abziele, und die taktische Notwendigkeit, die Macht im Gazastreifen um jeden Preis aufrechtzuerhalten.

Kampf gemäß Agenda

Für das ehemalige hochrangige Mitglied des israelischen Sicherheitsdienstes Shin Bet Schalom Arbel, der von 1988 bis 2013 in den Bereichen Rekrutierung und Operationen tätig war, werde die Hamas »von einer Agenda angetrieben. Es ist die Strategie der Hamas, die im Kern die Strategie der Muslimbruderschaft ist.« Letzten Endes sei ihr oberstes Ziel die Zerstörung des Staates Israel. »Sie wollen dieses Land, das sie als islamisches Waqf-Land [unveräußerliches islamisches Land, Anm. Mena-Watch] betrachten, also das Land Israel, an sich reißen und meinen, es in muslimische Hände zurückgeben zu müssen. Sie glauben, dass sie alles tun müssen, um Israel zu bekämpfen, zu schwächen und ausbluten zu lassen.«

Laut Arbel dienten Teilabkommen nicht den strategischen Interessen der Hamas, da sie »bedeuten, dass Israel Geiseln zurückbekommt«. Israel erhalte Geiseln und lasse palästinensische Gefangene frei, »die aus israelischer Sicht nicht so wertvoll sind, da sie wieder verhaftet werden können«. Die Hamas befürchtet, diese Art von Vereinbarung würde es Israel ermöglichen, die Operationen im Gazastreifen nach einer vorübergehenden Pause wieder aufzunehmen und fortzusetzen, bis die Hamas vollständig zerstört ist; eine Situation, welche die Terrororganisation um jeden Preis vermeiden will.

Stattdessen bestehe die Hamas auf einem umfassenden Abkommen, weil sie glaube, dass nur ein solcher Rahmen, der von internationalen Akteuren garantiert werde, ihr Überleben sichern könne.  »Sie wollen ein umfassendes Abkommen, in dem Israel dazu gedrängt wird, sich ein Ende des Kriegs vorzustellen, da sie wissen, dass dies in der israelischen Gesellschaft auf große Resonanz stößt.« Darüber hinaus fordert sie, dass ein »Ende des Kriegs aussagekräftig und mit internationalen Garantien verbunden ist, sodass Israel die Vereinbarung nicht brechen kann«.

Jene Stimmen in Israel, welche die Regierung auffordern, diesen Rahmen zu übernehmen und behaupten, Israel könne die Kämpfe dann wieder aufnehmen, nachdem es seine Geiseln zurückerhalten hat, vereinfachten die damit einhergehende Herausforderung zu sehr. »Die Hamas ist nicht dumm. Sie ist sehr gerissen und trügerisch. Das ist Teil ihrer Agenda und ihrer Direktive. Ihr Ziel ist es, ernsthafte Garantien zu erhalten, die wichtig sind und ihr Überleben sichern«, warnte Arbel.

Die Hamas betrachte die Geiseln als Druckmittel, um ihr eigenes Überleben zu sichern. »Die Hamas behandelt die Geiseln wie eine Ware«, argumentierte Arbel und erinnerte an, dass die Terrorgruppe in der Vergangenheit selbst grundlegende Informationen über den Zustand der Geiseln zurückgehalten habe. »Jetzt geben sie solche Informationen ›kostenlos‹ heraus, weil sie versuchen, die israelische öffentliche Meinung zu manipulieren.«

Ginge die Strategie der Hamas auf, würde ihr Krieg gegen Israel in einigen Jahren, nachdem sie sich neu formiert hat, wieder aufgenommen werden, während ihr Status in anderen Gebieten wie dem Westjordanland einen massiven Aufschwung erleben würde, trete dieses Szenario ein. Die katastrophalen Kriegskosten im Gazastreifen seien für die islamistische Terrorgruppe nicht bedeutsam, da für sie nur das Gesamtziel des Dschihadismus zähle. »Denjenigen, die getötet werden, wird ein Märtyrertod versprochen. Diejenigen, die im Gazastreifen bleiben und den Kampf in Judäa und Samaria und anderen Gebieten fortsetzen, werden nach Ansicht der Hamas das Land Israel ›befreien‹.«

Umfassende Lösung

Der leitende Forscher für den Nahen Osten und den radikalen Islam am Jerusalem Center for Security and Foreign Affairs und Mitbegründer der Orient Research Group Ltd., Jonathan D. Halevi, stellte fest, dass entgegen der öffentlichen Wahrnehmung die Hamas sich nur mit einer Totallösung in ihrem Sinne zufriedengebe. Ihre Kernforderungen sind der vollständige Rückzug Israels aus dem Gazastreifen einschließlich der Räumung des Sicherheitsperimeters, die Aufhebung der Sicherheitsblockade, internationale Garantien gegen erneute israelische Militäraktionen und ein umfassender Wiederaufbau des Küstenstreifens einschließlich der Infrastruktur der Hamas.

Halevi warnte, dass dieser Ansatz darauf abzielt, ein Narrativ vom Sieg der Dschihadisten über den jüdischen Staat zu schaffen, das im gesamten Nahen Osten Widerhall finden würde: »Wenn das Bild eines Hamas-Siegs entsteht, hat das zukunftsweisende Folgen – nicht nur lokal.«

Die Hamas verfolge eine Hinhaltetaktik, während sie den internationalen Druck nutze, um den innerisraelischen Dissens zu vergrößern und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. »Ihr Schwerpunkt liegt darauf, internen Druck zu erzeugen, um [den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin] Netanjahu zu zwingen, ihre Bedingungen zu akzeptieren. Das ist die erklärte Hamas-Strategie: Erhöhung des Drucks durch die Familien der Geiseln und durch Proteste.« Es habe den Anschein, also ob die Hamas einige der gegen Netanjahu gerichteten Botschaften von israelischen Demonstranten kopiere und versuche, sie als Teil ihrer eigenen Kampagne zu übernehmen.

Als Teil ihrer Kampagne, Druck zu erzeugen, habe sich auf der Grundlage von Hamas-Dokumenten, die Halevi kürzlich übersetzt hat, herausgestellt, dass ihr verstorbener Führer Yahya Sinwar die Antiregierungsproteste in Israel als »grünes Licht« interpretierte, denn selbst die ehemalige US-Regierung von Präsident Joe Biden wolle Netanjahu loswerden.

Die israelische Sichtweise sei sehr eng, meinte Halevi und konzentriere »sich darauf, das Problem nur in Bezug auf den Gazastreifen zu sehen. Das ist ungenau. Die Hamas könnte im Rahmen eines künftigen Abkommens beschließen, keine Geiseln mehr freizulassen, weil Israel zum Beispiel auf dem Tempelberg in Jerusalem oder in der Höhle der Patriarchen in Hebron aktiv ist.«

Vollständiger Sieg nötig

Die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) führten in dieser Woche umfangreiche nächtliche Luftangriffe im gesamten Gazastreifen durch und konzentrierten sich dabei auf den Westen von Gaza-Stadt sowie auf Khan Yunis und Rafah im südlichen Gazastreifen. Spezifische Luftschläge zielten auf mindestens drei Konzentrationen von schweren technischen Fahrzeugen, die von der Hamas für die Terrorinfrastruktur genutzt werden.

Eine am 21. April im Jerusalem Institute for Strategy and Security veröffentlichte Analyse von Gabi Siboni, der als Berater der IDF tätig ist, und Erez Winner, dem ehemaligen Planungschef des IDF-Südkommandos, warnte davor, dass die Hamas das Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen nicht fürchte und das Massaker vom 7. Oktober 2023 als Vorbild für künftige Operationen ansehe.

»Die Hamas arbeitet bereits am nächsten 7. Oktober. Sie betrachtet den Angriff als einen großen Sieg und ist ungerührt von dem Preis, den sie oder die Bevölkerung des Gazastreifens dafür zahlen müssen.« Die beiden Autoren wiesen darauf hin, dass die Hamas sowohl den israelischen Vorschlag als auch den amerikanischen Witkoff-Plan abgelehnt habe, der die Rückgabe von etwa der Hälfte der verbleibenden 59 lebenden und toten Geiseln im Austausch für eine Verlängerung des Waffenstillstands vorsah.

Siboni und Winner fordern die vollständige militärische Kontrolle Israels über den Gazastreifen und erklärten: »Der Schlüssel zum Erreichen der Kriegsziele liegt in der vollständigen Zerstörung der militärischen und staatlichen Präsenz der Hamas im Gazastreifen.« Dies sei nicht nur bedeutsam, um die Sicherheit im Süden Israels zu gewährleisten, sondern auch, um zu verhindern, dass die Hamas die derzeitige Kampagne als einen Sieg darstellt, was zu einer weiteren Radikalisierung im Westjordanland führen würde.

Yaakov Lappin ist Korrespondent und Analyst für militärische Angelegenheiten in Israel, hausinterner Analyst am MirYam-Institut, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Alma-Forschungs- und Bildungszentrum und am Begin-Sadat-Zentrum für strategische Studien an der Bar-Ilan-Universität sowie Autor von Virtual Caliphate – Exposing the Islamist State on the Internet. (Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir reden Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!