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„Der israelbezogene Antisemitismus prägt meinen Alltag“

Vorstand der Jüdischen Gemeinde Graz Eli Rosen
Vorstand der Jüdischen Gemeinde Graz Eli Rosen (Quelle: Facebook, Annenpost)

Nach den Angriffen auf die Grazer Synagoge und den Präsidenten der Jüdischen Gemeinde Graz traf Mena-Watch Kultusrat Elie Rosen zu einem Hintergrundgespräch über alten und neuen Antisemitismus. Das Gespräch führte Thomas Eppinger.

Mena-Watch: Theodor W. Adorno hat in den „Minima Moralia“ geschrieben, der Antisemitismus sei das Gerücht über die Juden. Der Satz zielt auf den alten Antisemitismus, der in der Shoa gegipfelt hat. Ist der moderne Antisemitismus das Gerücht über Israel?

Elie Rosen: Ja, dem stimme ich absolut zu.

Israelbezogener Antisemitismus wird meist ignoriert

MW: Nun löst der moderne Antisemitismus den alten ja nicht ab, sondern er kommt dazu. Doch während der alte inzwischen verfemt ist, ist der zeitgenössische nicht nur gesellschaftlich anerkannt, sondern fest im Mainstream von Politik und veröffentlichter Meinung verankert. Braucht es hier mehr Widerstand?

ER: Der Kampf gegen die Stigmatisierung Israels und den israelbezogenen Antisemitismus bildet einen ganz wesentlichen Anteil meiner Arbeit hier und macht auch aus, wie die Grazer Gemeinde positioniert ist. Daher setze ich mich sehr stark damit auseinander.

Es wird viel über den rechten Antisemitismus geredet, und natürlich gibt es auch einen ausgeprägten muslimischen Antisemitismus, doch der israelbezogene Antisemitismus wird zwar benannt, aber oft ignoriert. Nach meinem Dafürhalten wird er von Dritten meist abgetan als etwas, das eigentlich kein Antisemitismus ist, sondern eine Kritik an der Regierung Israels. Die positiv Gesinnten zeigen dann zwar noch Verständnis dafür, dass Juden zu dem Thema anderer Meinung sind, aber man mischt sich nicht ein. Das sei eben kontroversiell, meint man, und dabei belässt man es auch schon wieder.

Für mich aber in meiner täglichen Arbeit ist das der Antisemitismus, der meinen Alltag am meisten prägt. Ich habe in den letzten Jahren Gott sei Dank keine neo-nazistischen Briefe und Mails bekommen. Wenn ich mir anschaue, worauf sich die Postings oder Massen-Emails beziehen, in denen ich zerrissen werde, dann gehen die primär in diese Richtung. Bis hin zum „Zionisten-Nazi“ war da schon alles zu lesen.

Das zeigt sich auch jetzt nach den Angriffen auf die Synagoge und mich. Wenn Sie sich die sogenannte Solidaritätserklärung der sogenannten Steirischen Friedensplattform, die dem israelbezogenen Antisemitismus den Weg geradezu ebnet, ansehen: Da werden ein paar Sätze möglichst breit formuliert, in denen die Attacken verurteilt werden, und drei Zeilen weiter zieht man zwei Absätze lang über mich her, weil ich Position für Israel beziehe, und wie schrecklich das sei.

MW: Nach dem Motto, „hättet Ihr den Arabern nicht ihr Land gestohlen, hättet ihr hier nicht so viele Probleme“?

ER: So ähnlich. Das ging so weit, dass mir nach dem Anschlag jemand sinngemäß geschrieben hat: „Jetzt sehen Sie endlich, wie es den Palästinensern unter den Israelis geht“. Und diese Ungeheuerlichkeit kam nicht von einem Muslim oder Araber, sondern von einem „ganz normalen Steirer von nebenan“.

Ich dränge sehr stark darauf, den muslimischen Antisemitismus, der auch israelbezogen sein kann, vom israelbezogenen Antisemitismus zu unterscheiden, der mehr argumentativ und die Politik vorschiebend auftritt als jener Antisemitismus, der schlichtweg Stereotype bedient, die mit dem Staat Israel nichts zu tun haben, sondern schon seit Jahrhunderten tradiert werden.

MW: Sie meinen den Antisemitismus, den es im Islam angeblich gar nicht gibt?

ER: Tatsache ist, dass Juden sowohl in religiösen Schriften des Islam als auch in jahrhundertelanger Praxis Diskriminierung erfahren haben. Natürlich prägt ein Bild, das über Jahrhunderte gezeichnet wird, auch die Menschen, die in diesem Wertesystem leben. Antisemitismus hat sich in der Region autonom entwickelt, auch wenn er später europäische Komponenten aufgenommen hat.

MW: Dabei ist der israelisch-arabische Konflikt einer der kleinsten in der ganzen Region.

ER: Eben. Aber er dient dazu, einen Antijudaismus zu transportieren, der in dieser Form nichts mit dem europäischen zu tun hat, weil seine Genese schon vom sozialen und politischen Umfeld her eine ganz andere ist.

Gefährlichkeit von BDS wird unterschätzt

MW: Zurück zum israelbezogenen Antisemitismus: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Israel-Boykottbewegung BDS [Boycott, Divestment and Sanctions, Anm.]?

ER: BDS ist eines der Themen, die mich sehr stark beschäftigen. Die Bewegung ist ein Wegbereiter des israelbezogenen Antisemitismus. Sie ist überaus gefährlich und wird unterschätzt. Ich mache Israel oft den Vorwurf, sich in dieser Beziehung schlecht zu vertreten. Während wir hier in Graz das Thema BDS stark thematisiert haben, herrscht in der israelischen Politik die Meinung vor, man solle gar nicht so viel über diese Bewegung reden, um sie nicht stärker zu machen als sie ist. Da würde ich mir oft mehr Unterstützung vom offiziellen Israel und den Vertretungen wünschen.

MW: Die Bewegung schadet Israel wirtschaftlich kaum, da will man ihr nicht noch zusätzlich Publizität verschaffen.

ER: Aber das ignoriert vollkommen, dass man mit den Auswüchsen dieser Bewegung nicht in Israel konfrontiert ist, sondern in den Gemeinden in der Diaspora. Immer, wenn Israel von diesen Leuten angeschossen wird, sind massiv die jüdischen Gemeinden betroffen, die etwas dagegen tun. Darum haben wir inzwischen eine Reihe von Städten, die Anti-BDS Resolutionen beschlossen haben, weil sie für sich – und ich glaube mancherorts wirklich glaubwürdig – erkannt haben, dass in der BDS-Bewegung viel Potential für Hass und Antisemitismus liegt.

Leider ist die Umsetzung oft eine ganz andere – zum Beispiel, wenn wir es hier mit etablierten Leuten in einem Menschrechtsbeirat zu tun haben, die sagen, die Boykott-Bewegung sei eine legitimierte Form der Auseinandersetzung mit dem Konflikt, ein legitimer Ausdruck von Meinungsfreiheit.

Obwohl Gruppen wie etwa die Steirische Friedensplattform auf ihrer Website schon Artikel publiziert haben, in denen behauptet wird, Israel vergifte Brunnen und palästinensische Kinder, behaupten Leute aus dem Establishment, das sei eine durchwegs seriöse Organisation – und sie können auf ihren Sesseln sitzenbleiben, obwohl es eine Resolution gegen BDS in dieser Stadt gibt. Das sei ja so ein verdienter Mensch, heißt es dann. Da klaffen Theorie und Praxis weit auseinander.

Interessanterweise sind das dieselben Personen, für die genau jene Organisationen wie die Steirische Friedensplattform in ihren Aussendungen Stellung beziehen, und die sie damit für sich instrumentalisieren beziehungsweise vereinnahmen (können). Wenn es gelingt aufzuzeigen, welche Leute – auch aus dem Establishment und aus der so genannten Lehre – einen starken Konnex zur Boykottbewegung aufweisen oder sich schützend vor sie stellen, ist das ein Erfolg. Und das haben wir in Graz geschafft.

Doppelstandards sind vollkommen akzeptiert

MW: Wenn wir über BDS sprechen, sprechen wir ja über das „Gerücht über Israel“. Und wenn Politiker und Journalisten Israel als „Apartheidstaat“ verleumden oder gedankenlos von „Annexion“ sprechen, dann verbreiten sie dieses Gerücht, das gesellschaftlich genauso geächtet werden müsste wie der Antisemitismus von rechts.

Wir sind hier nicht konsequent. Sonst könnten nicht ausgerechnet ein österreichischer und ein deutscher Präsident von Yad Vashem nach Ramallah fahren und sich dort an der Seite von Mahmud Abbas vor dem Grab Jassir Arafats verbeugen – zwei Männer, die zusammen wahrscheinlich für mehr Morde an jüdischen Zivilisten verantwortlich waren als irgendjemand anderer nach dem Zweiten Weltkrieg. Müssten wir hier nicht deutlicher machen, dass das einfach nicht geht? Müssten wir dieser moralischen Indifferenz, den doppelten Standards und offensichtlichen Verleumdungen nicht noch viel energischer entgegentreten?

ER: Diese Doppelstandards sind etwas vollkommen Akzeptiertes. Die Leute, die sich äußern zu inner-israelischen Fragen oder solchen der israelischen Außenpolitik, setzen sich in aller Regel ja mit den ganzen totalitären Ländern im Nahen Osten überhaupt nicht auseinander.

Das stößt mir am meisten auf. „Apartheid“, als wäre Israel ein Land der Intoleranz! Ich kenne kein einziges Land in der Region, in dem die Rechte der Homosexuellen verankert sind, im Gegenteil: Homosexuelle schweben überall sonst in Lebensgefahr. Ganz zu schweigen von der völlig inakzeptablen Resolutionspolitik der UNO, die ihre Legitimität als moralisches Gewissen der Welt längst vollkommen verloren hat.

Man muss sich damit auseinandersetzen, aber es ist schwierig, weil gerade kleine Gemeinden diese Arbeit mangels Manpower nur schwer bewältigen können. Wir präsentieren derzeit gerade ein edukatives Programm gegen Antisemitismus, das einen historischen Part hat – es ist ja nicht so, dass in der Region erst seit 1948 Juden leben –, einen Part, der das Judentum vermittelt, und einen dritten Part zum Antisemitismus im engeren Sinn. Ein ganz wesentlicher Teil davon ist die Frage des israelbezogenen Antisemitismus und wie man ihm entgegenwirkt. Hier ist sehr wohl ein Umdenken gefragt.

Dieses Entgegenwirken muss auch darin bestehen, Kindern und Jugendlichen den Staat Israel zu präsentieren, bevor sich Stereotype und Vorurteile, wie sie die Medien dominieren, festgesetzt haben.

MW: Aber ist nicht gerade für Österreich und Deutschland die Stigmatisierung Israels sehr verlockend? Indem man die eigene Geschichte in einem gewissen Maß auf Israel projiziert, kann man sich davon exkulpieren.

ER: So ist es. Man hört hier ja immer wieder: „Ich habe ja auch Juden gekannt, und meine Eltern waren ja noch mit Juden befreundet, also der Antisemitismus, in meiner Familie waren wir da anders.“ Das sind so Momente, wo es mir aufstößt, weil man einfach merkt, was dahintersteht.

Das ist eine Verdrängung, so wie die Sozialisation des Täters von Graz, den angeblich niemand kennt. Der hat mit seinem Bruder zusammengelebt, den offenbar auch niemand kennt, und er hat Integrationskurse besucht, die anscheinend Einzelstunden waren, die er sich selbst gegeben hat. Manchmal kommt man sich schon ein wenig verarscht vor.

Schwere der Herausforderung ist vielen nicht bewusst

MW: Auch Zuwanderer aus dem Nahen Osten haben Antisemitismus ins Land gebracht. Wie sollen wir damit umgehen?

ER: Wir können das Thema Israel im Umgang mit Migranten nicht einfach ausklammern. Das wäre keine geeignete Form der Begegnung und der Auseinandersetzung, es wäre gefährlich. Die Frage ist, inwieweit das Hinführen von Migranten zu unserer Wertegemeinschaft eine Aufgabe unseres Systems ist, und ob unser System das überhaupt leisten kann. Wer heute 40 oder 50 Jahre alt ist, ist in seinen Überzeugungen gefestigt. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass man Vorurteile einfach mit ein paar Kursen aus der Welt schaffen kann. Aber natürlich lösen Begegnungen und Dialoge immer wieder positive Prozesse aus.

Die Fragen der Grundrechtsinterpretation und des Umgangs mit den Grundrechten sind für mich als Jurist ganz wesentliche, weil wir Grundrechte zum Teil so extensiv interpretieren, dass es Extremismen Tür und Tor öffnet. Dazu kommt die quantitative Frage, wie viele Personen wir gleichzeitig zu unseren Werten hinführen können.

MW: In unserem eigenen Land, im Umgang mit den eigenen Eltern und Großeltern, Verwandten und Freunden, haben wir es Generationen nach der Shoa noch immer nicht geschafft, antisemitisches Gedankengut zu beseitigen. Ich frage mich, woher der Optimismus kommt, dass wir glauben, Menschen, die ihr ganzes Leben indoktriniert worden sind, innerhalb von wenigen Jahren ein völlig anderes Wertesystem vermitteln zu können.

ER: Die Behandlung von Asyl und Aufenthalt war für viele Jahre ein ganz wesentliches Thema meiner beruflichen Tätigkeit, daher habe ich wahrscheinlich einen ziemlich kritischen Zugang dazu und blicke mit großer Skepsis auf das Problem. Da kommt etwas auf uns zu oder ist schon auf uns zugekommen, und die Schwere dieser Herausforderung ist manchen Leuten gar nicht bewusst. Da und dort schnell mal ein paar Kurse anzubieten, wird nicht reichen.

Auch wenn man sich keinen Illusionen hingeben soll, denn Kinder leben ja außerhalb der Schule nicht im luftleeren Raum, sondern in der sie prägenden Sozialisation: Wenn wir irgendwo etwas schaffen, dann bei den Kindern und mit den Kindern. Da müssen wir uns anstrengen.

MW: Herr Rosen, danke fürs Gespräch.

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