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»Hijacking Améry«: Der ganz normale Antizionismus des Potsdamer Einstein Forum

Das Einstein Forum instrumentalisierte Jean Améry für seine antiisraelische Agenda
Das Einstein Forum instrumentalisierte Jean Améry für seine antiisraelische Agenda (© Imago Images / Sven Simon)

Eine Verteidigung Jean Amérys gegen den Versuch, ihn als Kronzeugen gegen Israel einvernehmen zu wollen.

Pascal Beck

Im Juni erst stand die internationale Konferenz »Hijacking Memory – Der Holocaust und die Neue Rechte« in der Kritik. Sollte es eigentlich um die Instrumentalisierung der Erinnerung an den Holocaust durch die Neue Rechte gehen, wurde die Erinnerung an den Holocaust für antizionistische Propaganda instrumentalisiert. Kuratiert wurde die Veranstaltung von Susan Neiman und Emily Dische-Becker.

Einen knappen Monat später fand eine Tagung unter dem Titel »Jean Améry – The Resilience of Enlightenment« statt, die erneut von Susan Neiman konzipiert wurde und im von ihr geleiteten Einstein-Forum in Potsdam stattfand. Neiman bat zuvor alle Referenten darum, nicht über Auschwitz oder die Folter zu sprechen. Da dies aber essenziell für Amérys Werk sei, könne das Thema nicht gänzlich ausgelassen werden. Bei David Shulman, einem israelischen Indologen und Friedensaktivisten, machte Neiman deshalb eine Ausnahme: »Weil er David ist.«.

Shulmans Dreisatz

Im Mittelpunkt von Shulmans Vortrag »Torturing the Mind – A Palestinian Addendum to Améry«,der auf YouTube nachzuhören ist, stand »die systematische und kollektive Qual der palästinensischen Seele unter der Besatzung Israels« – eine besondere Art der Folter, die kaum thematisiert werde. Als Ausgangspunkt sollte ihm die Geschichte eines palästinensischen Freundes dienen.

Dieser Freund, so Shulman, sei vom israelischen Militär mit anderen zusammen festgenommen und gefoltert worden. Obwohl der Oberste Gerichtshof Israels die Folter bereits 1999 abgeschafft habe, hätte man sich die Möglichkeit dazu – unter besonderen Umständen – vorbehalten. Sein Freund habe nach seiner Freilassung Jean Amérys Text Die Tortur gelesen, sich in diesem wiedergefunden und »weniger allein gefühlt«.

Im Weiteren zitierte Shulman aus einem Gespräch mit israelischen Siedlern, um das Gefühl seines Freundes zu bestätigen: »Die Wahrheit ist, dass wir nicht wollen, dass diese Leute [Palästinenser; Anm. Mena-Watch] hier sind. Nicht auf diesem Hügel, nicht irgendwo im Jordantal.« Im Gespräch mit seinen palästinensischen Freunden wiederum sah er die Aussage der Siedler bestätigt, um so die »systematische und kollektive Qual der palästinensischen Seele« auf einen Dreisatz zu bringen:

»A) Sie wollen nicht, dass wir hier sind; b) Sie wollen nicht, dass wir überhaupt sind; c) das Schlimmste von allem: Sie wollen nicht, dass ich ich bin.«

Die Palästinenser würden um ihr Leben gebracht werden – nicht um ihr physisches, sondern um dessen Essenz. Der Polizeioffizier, der Shulmans Freund festgenommen hatte, habe dies bestätigt: »Du bist nicht hier, weil du etwas getan hast. Du bist hier, weil du existierst.«

Wenig mit Améry zu tun

Jean Améry wurde im gesamten Vortrag wenig genannt. Lediglich Die Tortur wurde als Text erwähnt. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Amérys Arbeit blieb aus – musste sie auch, sonst wäre es nicht möglich gewesen im Weiteren die klassischen israelfeindlichen Narrative zu bemühen. So durfte auch nicht die Geschichte eines 13-Jährigen fehlen, der vom israelischen Militär festgenommen wurde, von den Müttern, die Shulman berichteten, dass sie in ständiger Angst um ihre Söhne leben, und von den Siedlern, die Palästinenser nicht als Menschen betrachten würden.

In der anschließenden Diskussion betonte Neiman, weil es hierzu zuvor auf Twitter bereits Kritik gegeben hatte, dass man nicht nur einen Aktivisten, sondern einen mit akademischem Titel eingeladen habe, der für seine Arbeiten bereits vielfach gekürt wurde – für seine Arbeiten über Indien wohlgemerkt. Lediglich eine einzige Person aus dem Publikum wies darauf hin, dass sich Améry solidarisch zu Israel positioniert hatte. Allerdings sei das heutige Israel nicht das Israel, von dem Améry noch sprach, so die »kritische« Stimme. Unklar sei deshalb, wie er sich heute positionieren würde – darauf Zustimmung von Shulman.

Man muss Améry nicht aufmerksam gelesen haben, um diese Überlegung beantworten zu können. Als einer der ersten erkannte er, was sich hinter dem Antizionismus (nicht nur) der deutschen Linken verbirgt: ein »alt-neuer Antisemitismus«. Der Antisemitismus ist dem Antizionismus inhärent »wie das Gewitter in der Wolke«, so Améry in Der Ehrbare Antisemitismus.

Dreizehn Jahre nach der Erstveröffentlichung seines bekanntesten Buchs Jenseits von Schuld und Sühne – Bewältigungsversuche eines Überwältigten veröffentlichte er es in einer Neuauflage mit einem extra dafür verfassten Vorwort. Hatte er, als seine Schrift 1966 in erster Auflage erschien, nur jene als Gegner, die er als seine natürlichen verstand, wendete er sich jetzt gegen seine natürlichen Freunde: die deutsche Linke. Entsetzt von den Positionen, die diese vor allem nach dem Sechstagekrieg eingenommen hatten, sah er sich verpflichtet zu intervenieren:

»Das sowohl politische wie jüdische Opfer, das ich war und bin, kann nicht schweigen, wenn unter dem Banner des Anti-Zionismus der alte miserable Antisemitismus sich wieder hervorwagt.«

Beim Lesen der Nürnberger Gesetze wurde ihm bewusst, dass man ihn soeben zum Juden gemacht hatte. Eine Identität, die für ihn bis dahin keine Rolle gespielt hätte. Eine Identität, die er als Nicht-Identität bestimmt. Denn »Jude sein«, das hieß für ihn

»ein Toter auf Urlaub zu sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte«.

Dies änderte sich für ihn auch nach der Befreiung von Auschwitz nicht. Schwieg man zwar fortan »die Sache mit den Juden tot«, erkannte er die erneute Gefahr im Antizionismus. In seinem Essay Im Warteraum des Todes bestimmte Améry daher jeden Juden zum »Katastrophen-Juden«, der nur darauf warte, bis die nächste Katastrophe ausbricht, der weiterhin einer potenziellen Katastrophe ausgesetzt war, »ob er es erfasst oder nicht«. Es war also die Auschwitz-Nummer auf seinem Arm, die ihm die Entscheidung abnahm und weshalb er Israel ausnahmslos für alle Juden als unerlässlich bestimmte.

Gegen Améry

Die Einsamkeit, die Shulman als Konstante der psychischen Folter seines Freundes beschrieb, zieht sich bei Jean Améry durch sein gesamtes Werk. In Die Tortur schreibt er:

»Daß der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als Schrecken im Gefolterten liegen.«

Diese Erfahrung der Einsamkeit wurde bei Améry wiederbelebt, als er feststellen musste, dass wieder einmal diejenigen, die er als seine Freunde verstanden hatte, nicht am Schutz seiner Existenz interessiert waren, weil sie fortan Israel als das negative Prinzip als solches identifiziert hatten – wie einst die Deutschen die Juden. Für Améry war es keine Frage der jeweiligen politischen Situation in Israel. Er argumentierte aus seiner Erfahrung als Überlebender von Auschwitz. Weil er die Gefahr mit der Befreiung nicht gebannt sah, war die Existenz und das Fortleben dieses Staates für ihn bittere Notwendigkeit.

Shulman bezog sich in seinem Vortrag auf verschiedene essenzielle Momente in Amérys Arbeit, ohne diese jedoch klar zu benennen. In der Aussage des Polizeioffiziers beispielsweise findet sich eine Referenz auf Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein. Einzig ihre palästinensische Identität habe seine Freunde ins Gefängnis gebracht. Die palästinensische Identität sei somit eine negative, die mit ständiger Bedrohung einherginge und gerade deshalb zu dem dialektischen Verhältnis führe, dass man trotz ihrer Unmöglichkeit (»Sie wollen nicht, dass ich ich bin«) dazu gezwungen sei, sich mit eben jener zu identifizieren.

Indem Shulman die Erfahrungen Amérys auf die Lebensrealität seiner palästinensischen Freunde überträgt, charakterisiert er diese als die neuen Juden. Die Siedler, das israelische Militär und die israelische Polizei, welche letztlich lediglich als Symbole für den israelischen Staat als solchen stehen, werden, indem er sie als die Verfolger darstellt, als die einstigen Deutschen charakterisiert. Der jüdische Staat wird hiermit zum faschistischen Staat, zu den neuen Nazis.

Shulman vollzieht hier genau das, wogegen Améry im Vorwort der Neuausgabe von Jenseits von Schuld und Sühne angeschrieben hatte. Die Erfahrungen Amérys und damit die Besonderheit des Antisemitismus dienen hier lediglich als Schablone, um der eigenen politischen Agenda mehr Gewicht zu geben – und werden damit ihrer Besonderheit beraubt. Es ist ein Beweis von Ignoranz gegenüber dem eigentlichen Werk Jean Amérys, ihn für solche Zwecke zu missbrauchen, und ein Beweis dafür, dass die deutsche Kultur- und Wissenschaftslandschaft Jean Améry unbedingt lesen – und verstehen – sollte.

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