Latest News

Der blinde Fleck des Westens in Sachen Muslimbruderschaft

Palästinensische Hamas-Anhänger demonstrieren zur Unterstützung der Muslimbruderschaft in Ägypten
Palästinensische Hamas-Anhänger demonstrieren zur Unterstützung der Muslimbruderschaft in Ägypten (Quelle: JNS)

In den letzten fünfzig Jahren hat sich die Muslimbruderschaft in mehr als achtzig Ländern ausgebreitet und sich tief in westlichen Gesellschaften verankert.

Potkin Azarmehr

Im Westen wissen die meisten Aktivisten entweder überhaupt nichts von einem der blutigsten internen Konflikte der modernen arabischen Welt, oder sie verdrängen ihn bewusst: Algeriens Krieg gegen die Islamische Heilsfront (FIS), einen Ableger der Muslimbruderschaft. Nachdem die FIS im Jahr 1991 die erste Runde der Parlamentswahlen gewonnen hatte, griff das algerische Militär ein, worauf ein zehnjähriger Bürgerkrieg folgte – Algeriens »schwarze Dekade«, in der mehr als 200.000 Menschen ums Leben kamen.

Dieser Konflikt war kein abgelegener, überschaubarer oder eingegrenzter, und war geprägt von Massakern an ganzen Dörfern wie Rais, Bentalha und Sidi Hamed, wo Männer, Frauen und Kinder niedergemetzelt wurden. Bewaffnete islamistische Gruppierungen benutzten Kinder als menschliche Schutzschilde. Der Staat reagierte mit Massenverhaftungen, geheimen Internierungslagern, Folter und zahlreichen Verschleppungen. Menschenrechtsgruppen schätzen, dass zwischen 7.000 und 20.000 Algerier verschwanden, nachdem sie von den Sicherheitsdiensten festgenommen worden waren. Es war ein Konflikt mit unerbittlichem Terror, der die algerische Gesellschaft für eine ganze Generation traumatisierte.

Kein Einzelfall

Das algerische Beispiel ist kein Einzelfall in der arabischen Welt. Im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika waren säkulare arabische Regierungen gezwungen, gegen die Muslimbruderschaft vorzugehen, als diese drohte, die Staatsmacht zu übernehmen. Ägypten, Jordanien, die Staaten am Persischen Golf (mit Ausnahme von Katar) und Algerien haben sich der Bewegung entgegengestellt. In jedem Fall war die Lehre dieselbe: Gestattet man der Bruderschaft ein ungehindertes Agieren, sind die Folgen für die Bevölkerung, Minderheiten und den politischen Pluralismus katastrophal.

Diese hart erarbeiteten Lehren werden in arabischen Hauptstädten weitaus besser verstanden als in den westlichen. In Kairo, Amman und Abu Dhabi wird die Bruderschaft nicht als eine harmlose religiöse Wohltätigkeitsorganisation angesehen, sondern als eine fundamentalistische, ideologische Verbindung, die sich für langfristige Ziele positioniert und letztlich die Schaffung einer transnationalen islamistischen Ordnung anstrebt.

Tatsächlich beschränkt sich ihr Ziel nicht auf die Errichtung eines Kalifats in mehrheitlich muslimischen Staaten, sondern ist offen global ausgerichtet. In den letzten fünfzig Jahren hat sie sich in mehr als achtzig Länder ausgebreitet und sich tief in westlichen Gesellschaften verankert, insbesondere in Großbritannien, wo sie durch ihre Dachverbände ein Maß an Freiheit und Legitimität genießt, das sie in weiten Teilen der arabischen Welt nicht hat.

Das gut finanzierte Netzwerk der Bruderschaft aus Wohltätigkeitsorganisationen, Studentengruppen und NGOs bietet nicht nur soziale Dienste, sondern auch eine politische Infrastruktur für die Ideologie der Bewegung. Diese Netzwerke haben ihr geholfen, weltweit muslimische Gemeinschaften zu rekrutieren, ihren Einfluss auszuweiten sowie westliche Institutionen zu infiltrieren, von Universitäten und Gemeinderäten bis hin zu Lobbyorganisationen, Medien und sogar kirchlichen Einrichtungen.

Westliches Versäumnis

Dennoch behandeln gewählte Vertreter im Westen die Bruderschaft mit wenigen Ausnahmen weiterhin so, als wäre sie lediglich eine konservative religiöse Wohltätigkeitsbewegung. Einige gehen sogar Partnerschaften mit ihren Frontgruppen unter dem Banner des »gesellschaftlichen Engagements« ein oder nehmen an ihren Podiumsdiskussionen zum »interreligiösen Dialog« teil. Dies ist ein schwerwiegender strategischer Fehler. Das langfristige Ziel der Bruderschaft ist es, Gesellschaften von innen heraus umzugestalten und schrittweise die westlichen liberalen demokratischen Normen zu untergraben, die zum Aufschwung des Westens beigetragen haben.

Trotz einer Reihe umfangreicher und viel beachteter Untersuchungen, insbesondere der internen Überprüfung der britischen Regierung im Jahr 2014, die vom damaligen Premierminister David Cameron in Auftrag gegeben wurde, wurde das Verbot der Muslimbruderschaft ohne klare Begründung abrupt auf Eis gelegt.

Die von Charles Farr im Inland und Sir John Jenkins international geleitete Untersuchung beschrieb die Bruderschaft als »möglichen Indikator für Extremismus« und kritisierte die Geheimhaltung ihrer Aktivitäten in Großbritannien, wobei Bedenken hinsichtlich ihrer Spendensammlung, ihrer Mitgliederstruktur und ihres Einflusses in Studentengruppen und Gemeinschaftsorganisationen hervorgehoben wurden. Trotz dieser eindeutigen Ergebnisse verlief der Prozess jedoch im Sand und endete mit nichts weiter als Warnungen, vagen Beschreibungen und politischen Empfehlungen. Über ein Jahrzehnt später wurden noch immer keine entscheidenden Maßnahmen zum Verbot der Gruppe ergriffen.

In den Vereinigten Staaten wurden Senator Tom Cotton und Außenminister Marco Rubio, als er noch im Senat tätig war, zu führenden Stimmen, die darauf drängen, die Muslimbruderschaft nach US-Recht als terroristische Organisation einzustufen. Gemeinsam mit anderen Republikanern hat Cotton einen Gesetzentwurf eingebracht und Briefe verschickt, in denen er Behörden wie die Steuerbehörde IRS auffordert, mit der Muslimbruderschaft verbundene Gruppen wie den Council on American-Islamic Relations (CAIR) wegen ihres Status als gemeinnützige Organisation zu untersuchen, da sie angeblich finanzielle Verbindungen zu extremistischen Zielen haben.

Diese Akteure haben auch den »Muslim Brotherhood Terrorist Designation Act of 2025« mitinitiiert, der den amerikanischen Präsidenten dazu verpflichten würde, die Bruderschaft weltweit als ausländische Terrororganisation einzustufen und Sanktionen zu verhängen, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind. Ob diese mutige Initiative Erfolg haben wird oder wie der ins Stocken geratene Prozess in Großbritannien in Berichten und Rhetorik ohne Taten versanden wird, bleibt abzuwarten.

Das Versäumnis des Westens, die Herausforderung ernst zu nehmen, stellt eine große Gefahr für seine eigene Zivilisation dar. Vorzugeben, die Bruderschaft sei bloß eine weitere religiöse Organisation, ist keine »Toleranz«, sondern vorsätzliche Blindheit. Wie das blutige Jahrzehnt in Algerien gezeigt hat, führt das Ignorieren der wahren Natur der Muslimbruderschaft nicht zu Koexistenz, sondern zu Chaos.

Existenzielle Bedrohung

Derzeit befindet sich Israel im Krieg gegen die Hamas, einen weiteren Ableger der Muslimbruderschaft, die eine ernsthafte existenzielle Bedrohung für den jüdischen Staat darstellt. Im Gegensatz zu anderen arabischen Staaten, die gezwungen waren, ohne Bedenken vor internationaler Verurteilung gegen die Muslimbruderschaft vorzugehen, versucht Israel sein Bestes, um einen ethischen Krieg zu führen. Dennoch sieht es sich einer beispiellosen internationalen Gegenreaktion gegenüber, mit der andere arabische Staaten nicht konfrontiert waren, und zwar nicht nur von naiven Aktivisten, sondern sogar von gewählten westlichen Politikern.

Westliche Politiker müssen aus den Erfahrungen jener Länder lernen, die bereits den Preis für die Unterschätzung dieser Bewegung bezahlt haben, bevor es zu spät ist.

Der im Iran geborene Potkin Azarmehr ist Senior Fellow beim Investigative Project on Terrorism und in London ansässiger Investigativjournalist, Business-Intelligence-Analyst und TV-Dokumentarfilmer. (Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir reden Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!