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Antisemitismus auf der documenta: Ein Skandal mit Ansage (Teil 2)

Das antisemitische Tryptichon des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi
Documenta15: Das antisemitische Tryptichon des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi (© Imago Images / Hartenfelser)

Nachdem es in Teil 1 um die Entwicklungen im Vorfeld der documenta ging, spricht Stefan Frank nun mit Jonas Dörge vom Bündnis gegen Antisemitismus Kassel darüber, warum das Bild des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi auch ohne die »Stürmer«-Karikatur problematisch wäre und über die politischen Verantwortlichkeiten für den Skandal.

Stefan Frank (SF): Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte in seiner Eröffnungsrede, er habe sich überlegt, ob er überhaupt zur documenta 15 kommen solle. Er kritisierte scharf, dass keine jüdischen Künstler aus Israel eingeladen wurden. Wie bewerten Sie die Rede?

Jonas Dörge (JD): Kurz bevor Bundespräsident Steinmeier kam, war die documenta für Journalisten geöffnet worden. Sie entdeckten im Gebäude WH 22, wo Question of Funding ausstellt, das sogenannte Kunstwerk Guernica/Gaza. Das wurde sogleich öffentlich gemacht. Der Bundespräsident wusste davon und hat es thematisiert. Das ging ihm also zu weit, obwohl Steinmeier ja in Sachen Israel als, sagen wir, unsicherer Kantonist bekannt ist. Er sagte, dies sei nicht zu dulden und habe nichts mit einer möglichen Kritik an Israel und den Siedlungen zu tun.

Das Statement des Bundespräsidenten war trotz der in Deutschland üblichen Schlenker über Israelkritik und die Siedlungen wertvoll, weil er den hiesigen Akteuren – sprich: Oberbürgermeister Christian Geselle, Ministerin Angela Dorn-Rancke und Generaldirektorin Sabine Schormann, die die Verantwortliche für die documenta ist, was die Kunst betrifft – gewissermaßen gesagt hat: Was ihr hier gemacht habt, ist ein totales Versagen. Erst nach dem Besuch des Bundespräsidenten wurde das Bild, das jetzt jeder kennt, auf dem Friedrichsplatz ausgestellt.

Antiimperialistische Propaganda

SF: Sie meinen People’s Justice des indonesischen Kollektivs Taring Padi.

JD: Ja, der Volksgerichtshof.

SF: Was hat Ihrer Meinung nach die documenta bewogen, solche antisemitische Propaganda im »Stürmer«-Stil auszustellen, nachdem die documenta-Verantwortlichen und ihre Unterstützer monatelang die dezidiert antisemitische Weltanschauung der Kuratoren geleugnet hatten? Geht es darum, den Juden »Ätsch!« zu sagen, ein Signal zu senden, dass die Jagd auf sie keinerlei Grenzen kennt, schon gar keine des Anstands?

JD: Ich weiß nicht, ob der documenta klar war, was Taring Padi da veranstaltete. Das große Banner mit der »Stürmer«-Figur mittendrin, das auf dem Friedrichsplatz aufgebaut wurde, war der künstlerischen Leitung möglicherweise nicht bekannt. Wer es aber mit Sicherheit hätte kennen müssen, ist Ruangrupa. Die kommen aus demselben Land und kennen einander schon sehr lange. Das Banner, das auf dem Friedrichsplatz angebracht war, ist ja schon zwanzig Jahre alt, also ist es unwahrscheinlich, dass die Leute von Ruangruppa es nicht kannten.

Das Banner ist indessen nicht das einzige problematische Bild. Auf einem anderen Platz, ebenfalls zentral in Kassel, hängt ein ähnlich strukturiertes Bild. Auf diesem Bild findet sich ein Schwein, das in eine US-Flagge eingewickelt ist. Alle diese Bilder sind von einem Dualismus geprägt: Auf der einen Seite die unschuldigen, arbeitsamen, einfachen Bauern, auf der anderen Seite das finstere internationale Kapital.

Es wird immer Gut und Böse gegenübergestellt, es wird viel mit Personifizierungen gearbeitet, wie zum Beispiel mit dem »Kapitalistenschwein«, das auf einem der Aufsteller zu sehen war. Aufgrund der Fokussierung auf die Figur im »Stürmer«-Stil im Bild People’s Justice wurde wenig über das gesamte Werk gesprochen, das auch ohne die offen antisemitisch dargestellte Figur problematisch ist:

Oben ist der Volksgerichtshof, darunter die eingesperrten bösen Kapitalisten. Dann auf der rechten Seite die Bauern, die für die Einfachheit stehen. Ein Kind hält ein Plakat hoch, auf dem steht: »Gegen den Hedonismus«. Dann wird gegen Monsanto protestiert. Die Bauern arbeiten mit einfachen Hacken. Auf der linken Seite sieht man die Stadt, als degeneriert dargestellte Figuren, die dem Luxus frönen, alles ganz dunkel. Sicherheitskräfte, die gegen die Bauern marschieren. Da ist auch die »Mossad«-Figur mittendrin.

SF: Wurde eigentlich schon über den großen Totenkopf gesprochen, der einen Goldzahn hat? Auch dieser ist ja bei antisemitischen Darstellungen ein beliebtes Motiv.

JD: Das ist mir nicht aufgefallen. Es gibt aber viele Schädel, die die Opfer des Imperialismus darstellen sollen, sie tragen alle Inschriften wie »Palästina«, »Iran«, »Irak« usw. Sie werden in eine Reihe gestellt mit den Kriegen in El Salvador und in Vietnam.

und Terrorverherrlichung

SF: Ich meine den ganz großen Totenkopf, der links unten auf dem Banner ist. Der erinnerte mich an jenes unsägliche Titelbild, das die Zeitschrift Metall der IG Metall einmal vor 17 Jahren hatte: Eine fies grinsende Mücke mit Uncle-Sam-Hut, Anzug, Krawatte, Aktenkoffer, Eurozeichen in den Augen und eben einem funkelnden Goldzahn, dazu der Titel »US-Firmen in Deutschland: Die Aussauger«.

JD: Diese Figur ist mir in diesem Sinne gar nicht aufgefallen. Aber dieser Dualismus, der springt einen geradezu an. Ich glaube, wenn diese »Stürmer«-Figur nicht da gewesen wäre, wäre das durchgegangen. Das ist so ein bisschen der Stil aus den Autonomen Zentren der 1990er Jahre, den würde man heute nicht besonders originell finden, aber halt zur Kenntnis nehmen und nicht weiter beachten. So, wie ja auch das in die US-Flagge eingewickelte Schwein nicht thematisiert wird.

Solch ein plakativer Pseudo-Antikapitalismus geht durch. Was man nicht sehen will, ist eine »Stürmer«-Karikatur. Dass aber da ein Zusammenhang besteht zwischen der Ideologie, die Taring Padi vertritt, und dem Antisemitismus, der in dem Bild ausgedrückt wird, das wird nicht verstanden.

SF: Die Verherrlichung der japanischen Terrororganisation Japanische Rote Armee, die 1972 das Massaker am Flughafen Tel Aviv-Lod verübte, ist immer noch auf der Website der documenta 15.

JD: Ja, vermutlich würden sie sich herausreden, dass es sich ja nur um eine Dokumentation internationaler Solidarität mit Gruppen palästinensischen Widerstands handle. Es gibt noch andere derartige Dinge wie zum Beispiel die Darstellungen des Künstlers Hamja Ahsan, der vermeintlich spielerisch mit dem Thema Terror umgeht, wenn er den Namen der PFLP in Zusammenhang seiner Fried-Chicken-Serie als PFLFC mit Maschinengewehr reproduziert.

Man versucht also, etwas zu präsentieren, sich dann zurückzuziehen und so zu tun, als wäre das gar nicht als Verherrlichung gemeint, sondern lediglich als künstlerische Darstellung einer bestimmten Epoche oder bestimmter politischer Inhalte.

»Einfach vom Tisch gewischt«

SF: Nun wird über politische Verantwortung diskutiert. Manche fordern den Rücktritt von Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Was meinen Sie, wer sollte zurücktreten, und was würde das bringen?

JD: Claudia Roth würde ich, was die documenta betrifft, an letzter Stelle nennen. Wie ich schon sagte, hatten wir als Bündnis gegen Antisemitismus im Januar Oberbürgermeister Geselle angeschrieben und darauf hingewiesen, dass es ein Problem gibt, dass es einen Bundestagsbeschluss gibt, gegen den hier offensichtlich verstoßen wird. Wir boten ein Gespräch darüber an. Darauf hat er nicht reagiert.

Nachdem dann Thomas E. Schmidt in der Zeit darüber berichtet hatte, ließ Geselle eine Presseerklärung veröffentlichen, in der stand, was wir forderten, sei eine Infragestellung der vom Grundgesetz geschützten Freiheit der Kunst. Dazu der Satz: »Eine Überprüfung findet nicht statt«. Es wurde einfach vom Tisch gewischt.

Seit Januar also musste dem Oberbürgermeister bekannt gewesen sein, dass es zumindest in der Zusammensetzung der Gremien der documenta und in der Auswahl einiger Künstler ein Problem gibt. Er hat weder mit uns das Gespräch gesucht noch, soweit ich weiß, mit der Jüdischen Gemeinde oder dem Sara Nussbaum Zentrum für Jüdisches Leben Kassel, das sich mit Antisemitismus in der Stadtgesellschaft beschäftigt.

Dann veröffentlichte die HNA von OB Geselle ein Foto, das ihn Arm in Arm mit den Ruangrupa-Leuten Ade Darmawan und Farid Rakun zeigt, beide sehr exponiert in der Anti-Israel-Szene und die leitenden Kräfte von Ruangrupa. Am 27. Januar, zum Holocaustgedenktag, kam eine Delegation aus Kassels israelischer Partnerstadt Ramat Gan. Mit dieser Delegation posierte Geselle vor dem RuRu-Haus, wo Ruangrupa seinen Sitz hat, und ließ sich von der Presse ablichten. Es ist anzunehmen, dass die israelische Delegation nichts davon wusste, wofür das Haus steht. Das grenzt schon fast an …

SF: … Verhöhnung?

JD: Verhöhnung oder Instrumentalisierung. Da kommen Gäste aus Israel und lassen sich vor dem Haus fotografieren, ohne zu wissen, dass es im Moment in Deutschland und in Kassel ein Problem damit gibt. Geselle wäre also an erster Stelle derjenigen zu nennen, die zurücktreten müssen. Dann die Leiterin Sabine Schormann. Sie hätte sich intensiv darum kümmern müssen, dass das, was jetzt passiert ist, nicht passiert – zumindest, nachdem alles öffentlich geworden war und die überregionale Presse darüber berichtet hatte. Das wäre ihre Aufgabe gewesen.

Geselle, Schormann und Dorn-Rancke standen noch am Mittwoch vor der Eröffnung der documenta bei einer Pressekonferenz im Aue-Stadion – das ist das lokale Fußballstadion – und haben gesagt: Die Kritik komme von außen, sei aufgezwungen und habe mit der documenta überhaupt nichts zu tun. Das geschah, nachdem jüdische Verbände wie der Zentralrat der Juden in Deutschland, die WerteInitiative und das American Jewish Committee offensiv die Ausrichtung der documenta kritisiert hatten. Das alles wurde pauschal zurückgewiesen. Als Gegensatz dazu wurde gesagt, die Kasseler seien sich alle einig und froh darüber, dass die documenta laufe. Man teilte also in ein »wir« und »die«.

Schormann und OB Geselle müssen auf jeden Fall zurücktreten. Claudia Roth sollte wegen anderer Dinge zurücktreten, aber ihr Wirken im Zusammenhang mit der documenta würde ich nicht als den Tropfen nehmen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Natürlich trägt sie eine gewisse politische Verantwortung und ist auch nicht lernfähig, was den Zusammenhang von Antisemitismus und Antizionismus betrifft.

Solidarität mit Israel

SF: Wer steckt eigentlich wirtschaftlich hinter der documenta?

JD: Der Löwenanteil wird von der Stadt Kassel und dem Land Hessen gehalten. Dann sind noch Volkswagen, die Sparkassen von Kassel-Nordhessen und andere Kapitalgruppen mit dabei. Einen ganz kleinen Anteil hält der Bund über seine Kulturstiftung.

SF: Sprechen wir über Sie. Wer ist das Bündnis gegen Antisemitismus Kassel (BGA)?

JD: Es entstand 2009. Damals gab es eine große gemeinsame Kundgebung der Friedensbewegung, linker Kräfte und Milli Görüs. Sie demonstrierten gegen Israel. Ich habe mit zwei Bekannten als Privataktion ein Plakat aufgestellt, auf dem stand: »Israel will Frieden«. Es gesellten sich dann ein paar Leute aus der autonomen Szene dazu und stellten sich hinter uns.

Aus der Kundgebung heraus griff ein Mob von vielleicht 200 Leuten unseren Stand an und schlug ihn kurz und klein. Einem meiner Mitstreiter wurde eine Latte auf den Kopf geschlagen. Aufgrund dieses Ereignisses sagten wir uns: Wir müssen etwas tun. Daraus entstand das Bündnis, zusammen mit den anwesenden Autonomen.

Wie das bei Studenten so ist, gehen sie nach dem Studium weg, auch politische Auseinandersetzungen über die Bedeutung des politischen Islam und der AfD führten dazu, dass einige unserer früheren Mitstreiter heute in anderen Zusammenhängen agieren. So blieb über die Jahre ein Kern von fünf Leuten. Wir beschränkten uns zumeist auf kleinere Blogbeiträge, ab und zu ein Infostand in der Innenstadt und Aktionen zum 14. Mai, dem Jahrestag der israelischen Staatsgründung. Konfrontationen gab es dann noch einmal 2014 im Zusammenhang mit den antiisraelischen Kundgebungen.

Damals riefen wir zu einer Kundgebung zur Solidarität mit Israel auf. Auch Gruppen aus Marburg und Göttingen schlossen sich dem Aufruf an. Was jetzt im Zusammenhang mit der documenta passiert, ist eine Riesenaktion, die unsere Kräfte eigentlich überfordert. Wir – zusammen mit dem Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) und mittlerweile auch dem Sara Nussbaum Zentrum – sind in Kassel aber leider die Einzigen, die das thematisieren. Bis auf die Junge Union halten die politischen Akteure die Klappe.

SF: Sie sprachen von Autonomen. Ist das BGA Teil der linken oder linksradikalen Szene?

JD: Viele unserer Mitstreiter kamen aus dem israelfreundlichen autonomen Spektrum. Ich selbst komme aus dem parteipolitisch linken Spektrum. Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung über Antisemitismus kamen wir dann auf die Frage, ob Antisemitismus wirklich ein Problem ist, das in erster Linie von der Rechten verursacht wird, oder ob es nicht auch auf das Agieren der Linken und des Islam zurückzuführen ist. Wie sind die anderen Akteure zu bewerten? Was hat das mit Einwanderung zu tun? Da gab es Verwerfungen, die dazu führten, dass wir das BGA nicht mehr als linkes Projekt begreifen.

SF: Bekommen Sie derzeit sehr viele Interviewanfragen von Journalisten, die mit Ihnen über den Skandal sprechen wollen, den Sie aufgedeckt haben?

JD: Es hält sich in Grenzen. Die Journalisten kennen unsere Positionen – vermute ich – und erwähnen uns deshalb nur am Rande. Vielleicht liegt es sogar daran, dass es eigentlich Aufgabe der Journalisten gewesen wäre, diese Sachen aufzudecken.

Dass das Khalil Sakakini Cultural Centeran der documenta teilnehmen sollte und möglicherweise nur unter anderem Namen jetzt agiert, war seit Anfang oder Mitte 2021 bekannt. Es hat niemanden interessiert. Niemand hat sich des Themas angenommen. Das waren wir. Wir haben aufgedeckt, dass es in der documenta-Führung Unterstützer von BDS und antizionistischer Dokumente wie des Letter Against Apartheid gibt. Das war nicht die Arbeit bezahlter Journalisten, sondern unsere. Ich vermute, dass es einigen Journalisten stinken könnte, dass es eine kleine Gruppe von Amateuren aus Kassel war, die das gemacht hat.

Der Hessische Rundfunk hat vor einigen Monaten ein kurzes Interview mit mir geführt, das man auch immer noch im Netz findet. Zudem befragte mich kürzlich die Tageszeitung Die Welt. Auch die Hessische Niedersächsische Allgemeine, die nach der ersten ausführlichen Veröffentlichung unserer Recherche uns dann eher nicht mehr wohlgesonnen war, hat kürzlich ein Interview mit mir geführt. Davon abgesehen haben sich zwar immer wieder mal Journalisten gemeldet – das ZDF sogar zweimal –, dann aber habe ich nie wieder von ihnen gehört.

In Teil 1 des Interviews geht es um die Recherchen des Bündnisses gegen Antisemitismus Kassel zum Antisemitismus auf der documenta und um die Feindschaft, die diesen Nachforschungen entgegenschlug.

Am 16. Juli veranstaltet das BgA Kassel eine Tagung zum Thema »Antisemitismus im Nah-Ost-Konflikt und in der Kunst der postbürgerlichen Gesellschaft«. Weitere Informationen finden Sie hier.

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