Genozid wird universell als eines der schrecklichsten Vergehen anerkannt, die ein Staat begehen kann. Daher ist es nicht etwa Zufall, sondern vielmehr Absicht, dass ein solches Verbrechen exakt zu beweisen sein muss.
Im Dezember veröffentlichte Amnesty International (AI) einen 300-seitigen Bericht, in dem die Organisation behauptet, Israel habe das Verbrechen des Völkermords begangen. Bezugnehmend auf Artikel II der Völkermordkonvention von 1948 versucht der Bericht zu belegen, Israel habe Palästinenser im Gazastreifen gezielt getötet, ihnen schwere körperliche oder seelische Schäden zugefügt und vorsätzlich menschenunwürdige Lebensbedingungen auferlegt mit der konkreten Absicht, die palästinensische Bevölkerung ganz oder teilweise zu zerstören.
Als führende internationale Menschenrechtsorganisation sollte AI seine Verantwortung ernst nehmen und derart folgenschwere Behauptungen nicht leichtfertig aufstellen, ganz gleich, wie sehr ihre leitenden Vertreter daran glauben mögen. Leider offenbart der Bericht eine vollkommene Einseitigkeit und einen schockierenden Mangel an Ehrlichkeit und Objektivität gegenüber dem Staat Israel.
Wie die eigene – dafür dann suspendierte – israelische AI-Niederlassung anmerkte, liest sich das Werk mehr wie eine Anklageschrift, in der die Schuld bereits feststand und nur noch der »Beweis« konstruiert werden musste, denn als ein ernsthafter Versuch, gegensätzliche Argumente unvoreingenommen abzuwägen, die Beweislage objektiv zu bewerten und gut durchdachte Schlussfolgerungen zu ziehen.
In diesem ersten Teil einer mehrteiligen Reihe untersuche ich die zentralen Argumente bezüglich des Völkermordmerkmals der Tötung und Verursachung schweren körperlichen oder seelischen Schadens, wobei die hier geäußerte Kritik keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Nach Brandolinis Gesetz (»Das Widerlegen von Unsinn, erfordert eine Größenordnung mehr Energie als dessen Produktion.«) wäre wohl mindestens eine ebenso 300-seitige Replik erforderlich, um das Amalgam an fehlerhafter Logik, Halbwahrheiten, Unwahrheiten und Unterschlagungen im AI-Bericht angemessen zu adressieren.
Umgekehrt kann daraus nicht automatisch geschlossen werden, dass alle von der NGO erhobenen Vorwürfe per se unhaltbar seien. Ich behaupte aber, dass der Bericht nachweislich dabei scheitert, seine zentralen Anschuldigungen eines von Israel begangenen Genozids zu belegen. Allerdings muss uns die Art und Weise seiner Erstellung dazu ermahnen, keiner von Amnestys Anschuldigungen gegenüber Israel ohne Faktencheck und unabhängiger Analyse zu vertrauen.
Keine militärischen Ziele?
Manche Fehlschlüsse der informellen Logik werden so oft dazu missbraucht, das Publikum in einer Debatte zu verwirren, dass sie sogar spezielle Namen erhalten haben. Ein argumentum ad ignorantiam (Appell an das Nichtwissen) zum Beispiel ist der Versuch, eine Behauptung durch den Hinweis auf mangelnde gegenteilige Indizien zu beweisen. Doch wie der Wissenschaftskommunikator Carl Sagan richtig erklärte: »Die Abwesenheit von Indizien ist kein Indiz einer Abwesenheit.« Nichts trifft Amnestys Darstellung der Luftangriffe der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) besser als diese Definition.
Der AI-Bericht zählt fünfzehn Luftangriffe auf, die belegen sollen, dass Israel gezielt Zivilisten angegriffen habe, liefert jedoch keine direkten Beweise für diese Behauptung: keine Aussagen von Whistleblowern, keine enthüllten schriftlichen Befehle, Protokolle oder Richtlinien. Stattdessen verlässt sich AI, das selbst keine eigenen Mitarbeiter vor Ort hat, auf »vertrauenswürdige Informanten« (AI), die Zeugenaussagen und fotografische Beweise sammelten. In jedem der fünfzehn genannten Fälle heißt es im Bericht (S. 107–110): »Amnesty International fand keine Hinweise auf ein militärisches Ziel.«
Wir erfahren wenig über diese Informanten und ob Amnesty Maßnahmen ergriffen hat, um sicherzustellen, dass sie in dem totalitären Quasi-Staat Gazastreifen, in dem die Hamas für die gewaltsame Unterdrückung und Inhaftierung kritischer Journalisten sowie die Folterung von Verdächtigen bekannt ist (AI selbst weist immer wieder darauf hin), tatsächlich frei und unabhängig arbeiten konnten.
Aber nehmen wir für den Moment einmal an, die Feldmitarbeiter haben wirklich ihr Bestes gegeben, mögliche Militärziele zu identifizieren und gegebenenfalls Überreste militärischer Infrastruktur in den Trümmern zu erkennen. Dann wäre immer noch die Frage offen, auf die der Bericht jedoch nicht eingeht, ob solche Funde bei den untersuchten Zielen eine realistische Erwartung wären; zum Beispiel durch einen Vergleich der angeführten fünfzehn Fälle mit solchen zerstörten Gebäuden, in denen zuvor tatsächlich Waffendepots oder Tunneleingänge klar zu erkennen waren.
Um auszuschließen, dass Kämpfer ins Visier genommen wurden, stützt sich AI auf Interviews mit 74 Palästinensern, von denen »66 Überlebende und andere Zeugen und acht Verwandte der bei den Luftangriffen Getöteten waren« (S. 110).
Unter der Annahme, die Befragten würden über eine Hamas-Präsenz in ihrem Gebäude überhaupt Bescheid wissen, erwartet AI anscheinend – nein, verlässt sich sogar ausschließlich darauf –, dass die Familien, Freunde und Nachbarn der Getöteten, von denen viele zweifellos Zivilisten waren, zuverlässig entlastende Beweise für Israel liefern würden, den zentralen Antagonisten des palästinensischen nationalen Befreiungsnarrativs, dessen Angriff den Tod ihrer Angehörigen verursacht hat. Und AI verlässt sich darauf trotz der bekannten Anweisungen der Hamas-Regierung in früheren Konflikten, alle Opfer als »unschuldige Zivilisten« zu bezeichnen.
Fragwürdige Vorgehensweise
Zwei Monate vor der Herausgabe des AI-Berichts veröffentlichte die israelische Tageszeitung Haaretz, die nicht gerade für ihre kriegsbefürwortende oder regierungsnahe Berichterstattung bekannt ist, eigene Interviews mit Bewohnern des Gazastreifens. Dabei wurde festgestellt: »Für die Bewohner des Gazastreifens hat die Zensur der Identität getöteter Hamas-Mitglieder eine komplexe Situation geschaffen mit klaren, unausgesprochenen Regeln. Mehrere von ihnen erzählten Haaretz, dass die enorme Angst vor einem Bruch dieser Regeln ihre explizite Durchsetzung überflüssig macht. ›Man fürchtet sich, öffentlich über Hamas-Mitglieder zu sprechen, selbst über getötete, aus vielen Gründen‹, sagte [einer der befragten Palästinenser].«
Einer der Luftschläge, in denen Amnesty kein militärisches Ziel finden konnte, traf das Haus eines hochrangigen Kommandanten der Al-Quds-Brigaden des Islamischen Dschihads (PIJ), Shaldan al-Najjar, dessen Bruder Suleiman mit AI sprach. Obwohl al-Najjar bereits 2014 von den IDF ins Visier genommen wurde, sollen weder Suleiman noch die Informanten noch die AI-Forscher in der Lage gewesen sein, diese Verbindung herzustellen.
Die Vorstellung, dass derartige Zeugenaussagen annähernd als schlüssiger Beweis für die Abwesenheit militärischer Ziele und damit für die absichtliche Tötung von Zivilisten dienen können, ist bestenfalls fragwürdig.
Gleichzeitig wird der israelischen Darstellung im Bericht kaum Platz eingeräumt. AI gesteht zwar ein, dass die Hamas menschliche Schutzschilde einsetzt: »Amnesty International stellte fest, dass die Hamas Raketen aus dicht besiedelten Gebieten abgefeuert hatte, darunter aus Lagern für vertriebene Zivilisten. Sie operierten innerhalb oder in der Nähe von Wohngebieten, darunter provisorische Zeltlager. Ihre Kämpfer waren in Schulen und Lagern präsent, in denen Binnenvertriebene Zuflucht suchten, darunter auch an Orten, die von Israel als ›humanitäre Zonen‹ ausgewiesen wurden.« (S. 61)
Trotzdem werden öffentliche Kommentare Israels zu Luftangriffen, wie etwa jener nahe der Kirche St. Porphyrius, wo die IDF auf ein Hamas-Kommandozentrum gezielt haben will, als »vage«, »allgemein« und »unbelegt« (S. 110) abgetan. Wenig überraschend, blieben direkte Anfragen von AI auf Stellungnahmen der israelischen Behörden unbeantwortet – wohl, weil inmitten eines komplexen Mehrfrontenkriegs und angesichts des erheblichen IDF-Personalmangels Beiträge zu mutmaßlichen Anklageschriften einer Organisation mit antizionistischer Vorgeschichtenicht besonders weit oben auf der israelischen Prioritätenliste stehen. Darüber hinaus wären alle konkreten Indizien für militärische Ziele höchstwahrscheinlich geheime nachrichtendienstliche Informationen und würden damit selbst im Fall einer direkten Antwort nicht offengelegt werden.
Kategorische Schlüsse
Ohne Zugang zu den notwendigen Informationen für die einzelnen Luftschläge hätte ein ausgewogener Bericht daher zumindest einen Teil der Analyse den IDF-Zielauswahlverfahren widmen müssen, um die Wahrscheinlichkeit für völkerrechtswidrige Angriffe überhaupt bewerten zu können. Dafür wäre auch keine direkte Kommunikation mit israelischen Behörden notwendig gewesen, die Prozesse sind weitgehend öffentlich bekannt.
Beispielsweise schreibt der pensionierte US-Brigadegeneral Mark Kimmitt: »Disziplinierte Streitkräfte wie die IDF unterliegen strengen Einsatzregeln, die von politischen Entscheidungsträgern und Juristen festgelegt werden und bestimmen, wie die Streitkräfte kämpfen dürfen und werden. […] Solche Einsatzregeln sind besonders streng in Bezug auf Luftangriffe.«
Der bisher umfassendste Investigativbericht zu IDF-Praktiken nach dem 7. Oktober 2023 stellte fest, dass die Toleranz gegenüber Kollateralschäden im Vergleich zu früheren Gaza-Operationen zwar anstieg, was angesichts des Ziels, diesmal die militärischen Fähigkeiten der Hamas zu zerstören, kaum überraschen kann. Doch das genannte Exposee der New York Times fand keinerlei Hinweise auf wahllose Bombardierungen, geschweige denn auf gezielte Angriffe gegen Zivilisten. Im Gegenteil, es dokumentiert die umfangreichen, wenn auch nicht makellosen Verfahren der IDF zur Zielauswahl und Verhältnismäßigkeitsbewertung.
Und damit nicht genug: Selbst einmal angenommen, es gab in einem oder mehreren dokumentierten Fällen keine legitimen militärischen Ziele, könnten die Luftschläge auf Fehler zurückzuführen sein; sei es durch mangelhafte nachrichtendienstliche Einschätzungen oder andere Irrtümer, wodurch ebenfalls eine kriminelle Absicht ausgeschlossen wäre. In dem 300-seitigen Bericht wird diese Möglichkeit jedoch geradezu kategorisch in nur einer Zeile verworfen: »Es ist nicht plausibel anzunehmen, dass es sich bei diesen [Luftangriffen] um ›Fehler‹ gehandelt haben könnte, wenn sie mehrmals von einer der technologisch fortschrittlichsten Armeen der Welt wiederholt wurden. Die Beweislage lässt nur einen vernünftigen Schluss zu: Diese zivilen Todesfälle und Verletzungen waren beabsichtigt.« (S. 122)
In diesem Zusammenhang aufschlussreich ist, dass unter den 212 für den Bericht über einen angeblichen Völkermord im Kontext eines andauernden Kriegs befragten Personen kein einziger Militärexperte war, der hätte helfen können, zwischen Genozid und legitimer Kriegsführung zu unterscheiden. Unter den zahllosen bibliografischen Referenzen wird mit Larry Lewis nur ein einziger solcher Experte zitiert – um das Argument zu stützen, die IDF hätten nicht genug unternommen, um zivile Opfer zu vermeiden (S. 207).
Während Lewis’ Methode zum Ziehen einer solchen Schlussfolgerung fragwürdig erscheint (beispielsweise scheint er davon auszugehen, jeder zivile Todesfall im Gazastreifen sei das Ergebnis eines IDF-Luftangriffs gewesen), gibt selbst er zu:
»Den Schutz von Zivilisten im Gazastreifen zu gewährleisten, ist keine leichte Aufgabe. Militärische Operationen in den dicht besiedelten städtischen Gebieten durchzuführen und dabei zivile Opfer zu vermeiden, stellt immense Herausforderungen dar. Die Hamas versteckt sich innerhalb der Zivilbevölkerung und nutzt unterirdische Tunnel, um Waffen und Kämpfer zu bewegen. US- und Koalitionsoperationen der letzten zwanzig Jahre zeigen, dass selbst die professionellsten Streitkräfte, die sich der Einhaltung des Völkerrechts verpflichtet fühlen, erhebliche Schwierigkeiten haben, zivile Opfer in ähnlichen oder vergleichbaren urbanen Konflikten – etwa im Irak, in Syrien und in Afghanistan – zu vermeiden.«
Mit anderen Worten: Der einzige von Amnesty International zitierte Militärexperte widerspricht direkt den im AI-Bericht gezogenen Schlussfolgerungen der Organisation über zivile Kollateralschäden. Andere Militärexperten stimmen Lewis in diesem Punkt zu. William Arkin, der über ein Dutzend IDF-, US-Militär- und Geheimdienstmitarbeiter interviewte, schrieb etwa:
»Die Zahl der palästinensischen Opfer, so hoch sie auch sein mag, scheint nach den Maßstäben des Völkerrechts nicht unverhältnismäßig zu sein – weder in Bezug auf die Anzahl der von Israel eingesetzten Waffen noch auf die Anzahl der angegriffenen Ziele noch auf die Natur der Hamas oder die einzigartigen Gegebenheiten des Gazastreifens mit seiner außergewöhnlich hohen Bevölkerungsdichte. US-Militärquellen, von denen viele Teile des israelischen Vorgehens kritisch sehen, stimmen zu.«
John Spencer, einer der weltweit führenden Experten für urbane Kriegsführung, schrieb mehrere Kommentare, in denen er die einzigartigen Schrecken urbaner Schlachtfelder schilderte und Israels Vorgehen im Krieg positiv mit jüngeren von den USA geführten Kampagnen gegen den Islamischen Staat in Syrien und im Irak verglich. Spencer lobte außerdem die umfangreichen Maßnahmen der IDF zur Reduzierung ziviler Opfer angesichts der beispiellosen Herausforderungen, mit denen sie im Gazastreifen konfrontiert sind.
Widersprüche
Abschließend sei erwähnt, dass Amnesty International lediglich bei vier der fünfzehn Luftschlägen behauptet, Fragmente von in den USA produzierter Munition identifiziert zu haben, die Israel zuzuordnen ist – einer davon der Angriff auf das Haus der Familie des PIJ-Kommandanten al-Najjar. Für zwei weitere Angriffe übernahmen die IDF öffentlich die Verantwortung. In den verbleibenden neun Fällen legt der Bericht jedoch keine Beweise vor, dass diese Angriffe überhaupt auf israelische Bombardierungen zurückzuführen seien und nicht etwa auf fehlgeleitete Raketen palästinensischer Terrorgruppen.
Wie der Bericht selbst zugibt, lagerte die Hamas »Munition in zivilen Gebieten und feuerte von dort wahllos Raketen ab, wodurch palästinensische Zivilisten gefährdet wurden. Amnesty International hat über die Jahre mehrere Vorfälle dokumentiert, in denen von palästinensischen bewaffneten Gruppen abgefeuerte Raketen, die ihr Ziel verfehlten, palästinensische Zivilisten, darunter Kinder, in Gaza töteten.« (S. 55)
Um klarzustellen: Ich möchte nicht nahelegen, dass die verbliebenen neun Vorfälle tatsächlich auf Selbstbeschuss zurückzuführen sind. Ich habe keine Möglichkeit, das zu festzustellen, und angesichts der großen Zahl israelischer Luftangriffe scheint die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass sie tatsächlich auf IDF-Aktivitäten zurückzuführen sind. Ich möchte lediglich den Trugschluss des argumentum ad ignorantiam aufzeigen, der Amnestys Argumentation zugrunde liegt: nämlich wie einfach es ist, in Abwesenheit jeglicher Beweise beliebige Behauptungen aufzustellen.