Aleviten: Türkischer Präsidentschaftskandidat bricht Tabu

Der türkische Präsidentschaftskandidat Kemal Kilicdaroglu (re.) mit dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu
Der türkische Präsidentschaftskandidat Kemal Kilicdaroglu (re.) mit dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu (© Imago Images / Depo Photos)

Knapp vor der Präsidentschaftswahl spricht Kemal Kilicdaroglu öffentlich über seine Zugehörigkeit zur alevitischen Glaubensrichtung und entzieht dadurch seinem politischen Konkurrenten Erdogan einen wichtigen Angriffspunkt.

Weniger als vier Wochen vor den türkischen Wahlen am 14. Mai hat der Präsidentschaftskandidat Kemal Kilicdaroglu für enorme Aufmerksamkeit gesorgt, indem er offen über seinen alevitischen Glauben sprach, der von manchen als einer seiner größten Nachteile angesehen wird, geht es darum, Wählerstimmen für sich zu gewinnen. 

In einer Videobotschaft mit dem Titel »Alevi«, die vergangene Woche veröffentlicht wurde, meinte der Führer der größten Oppositionspartei des Landes, dass Identitäten die Menschen zu dem machen, was sie sind. »Liebe junge Menschen, die zum ersten Mal an den Wahlen teilnehmen werden, es ist an der Zeit, dass wir heute Abend über ein sehr privates, sehr sensibles Thema sprechen«, sagte er in einem väterlichen Ton. »Ich bin Alevit … ich bin Muslim.«

Im bislang mehr als 73 Millionen Mal angesehenen Video spricht der Politiker seit Beginn des Wahlkampfs zum ersten Mal über seinen Glauben, der eines der umstrittensten Themen im Vorfeld seiner Präsidentschaftskandidatur war, da viele – darunter auch Funktionäre der mit seiner Republikanischen Volkspartei (CHP) verbündeten Guten Partei (İYİ Parti) – argumentierten, die Konservativen und Islamisten in der Türkei würden davor zurückschrecken, für einen Aleviten zu stimmen.

»Unsere Identitäten sind das, was uns ausmacht. … Wir können sie nicht wählen«, sagte der Spitzenkandidat des gegen Erdogan antretenden Parteienbündnisses. »Aber es gibt sehr wichtige Dinge im Leben, die wir uns aussuchen können. Wir können wählen, ein guter Mensch zu sein, ehrlich zu sein, ethisch zu sein, rechtschaffen zu sein, tugendhaft und fair zu sein. Wir können uns dafür entscheiden, ein besseres Leben in einem freien und wohlhabenden Land zu führen.«

Kemal Kilicdaroglu stammt aus der überwiegend alevitischen Ostprovinz des Landes, Dersim (Tuncelli), und ist der erste Alevit an der Spitze der CHP. Die beträchtliche alevitische Minderheit des Landes folgt einer eigenen muslimischen Glaubensrichtung mit eigenen Gebetshäusern und war im Laufe der osmanischen Ära und der modernen türkischen Republik Opfer zahlreicher konfessioneller Angriffe bis hin zu Massakern, da sie von sunnitischen Islamisten als »Ketzer« betrachtet wurden.

Auch Präsident Recep Tayyip Erdogan zog sich in der Vergangenheit mehrfach den Zorn der Aleviten zu, weil er hetzerische Äußerungen machte – unter anderem bezeichnete er ein alevitisches Gebetshaus als »Freakshow« –, wenngleich er kürzlich versuchte, die Minderheit mit einer Reihe von Wahlversprechen zu umwerben

Breites Lob

Al-Monitor zitiert den Direktor des türkischen Forschungsprogramms am Washington Institute, Soner Cagaptay, laut dem Kilicdaroglus Video darauf abziele, die Regierung eines wichtigen Druckmittels zu berauben. Der Oppositionsführer versuche, »Erdogan die Kontrolle über das polarisierende Narrativ zu entziehen«. Indem er selbst aktiv über seine alevitische Identität spreche, »zieht Kilicdaroglu Erdogan den Boden unter den Füßen weg«, schrieb Cagaptay auf Twitter.

Der Direktor des Middle East Institute Turkey, Gonul Tol, bezeichnete den Schritt als mutig: »Er bekennt sich zu seiner alevitischen Identität, etwas, das Erdogan gegen ihn verwendet hat und von dem viele dachten, dass es ihn bei der bevorstehenden Wahl behindern würde.«

Auch von Oppositionspolitikern wurde das Video gelobt, etwa vom inhaftierten Führer der kurdischen Demokratischen Volkspartei der Türkei (HDP), Selahattin Demirtas, der das Video als einer der ersten Politiker retweetete. »Es ist möglich, in diesem Land ein gleichberechtigtes, brüderliches und friedliches Leben ohne Diskriminierung zu führen«, schrieb er. »Ich unterstütze diese schöne Botschaft von ganzem Herzen.« Die HDP kündigte letzten Monat an, keinen eigenen Kandidaten aufzustellen, was die Chancen von Kilicdaroglu erhöht. 

Auch die meisten seiner Koalitionspartner unterstützten ihn ebenfalls rasch. So teilte die islamistische Felicity-Partei das Video mit dem Kommentar, gemeinsam könne man »diese korrupte Ordnung beenden«, die unter Erdogan Einzug gehalten habe. In einem Video mit dem Titel »Sunni« sagte Erdogans ehemaliger Mitstreiter und nunmehriger Vorsitzender der Zukunftspartei (Gelecek Partisi), Ahmet Davutoglu, er sei Sunnit, »aber es ist meine Pflicht, die Rechte unserer alevitischen Bürger zu verteidigen«. Kilicdaroglu kandidiert als gemeinsamer Kandidat des von der CHP geführten Oppositionsblocks, bestehend aus sechs Parteien.

Während Erdogans Regierungspartei zu dem Video bislang weitgehend schwieg, beschuldigte sein wichtigster Verbündeter, der Vorsitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Devlet Bahceli, den Führer des Oppositionsblocks der »Verantwortungslosigkeit«, weil er »ethnische und sektiererische Empfindlichkeiten auf sehr gefährliche Weise ankratzt«.

Die Umfragen deuten auf ein enges Rennen bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen hin, weswegen sich die wichtigsten rivalisierenden Blöcke sich um die Unterstützung der unentschlossenen Jugendlichen bemühen, deren Stimmen nach Ansicht der Meinungsforscher entscheidend sein werden. – Und genau diese Jugendlichen waren die Zielgruppe von Kilicdaroglu und seiner Videobotschaft. »Mein lieber junger Freund, wir stehen als Land vor einem Wendepunkt und wir brauchen dich, um diesen gemeinsam zu überwinden. Vergesst nicht, dass ihr dieses Land aus den schmerzhaften sektiererischen Auseinandersetzungen herausführen könnt«, wandte der Präsidentschaftskandidat sich an die junge Wählerschaft.

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren sowie ein Editorial des Herausgebers.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir sprechen Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie einen unabhängigen Blickzu den Geschehnissen im Nahen Osten.
Bonus: Wöchentliches Editorial unseres Herausgebers!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!