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Afghanistan, zwanzig Jahre nach 9/11: Welch ein Jahrestag

Angesichts der Vorgänge in Afghanistan wird der 20. Jahrestag der Anschläge von 9/11 ein besonders bitterer. (© imago images/ZUMA Wire)
Angesichts der Vorgänge in Afghanistan wird der 20. Jahrestag der Anschläge von 9/11 ein besonders bitterer. (© imago images/ZUMA Wire)

Während bald der 20. Jahrestag der Anschläge von 9/11 begangen wird, überrollen die Taliban große Teile Afghanistan – die Botschaft könnte deutlicher kaum sein.

Was wäre dieser Tage wohl der feuchte Traum nicht nur der Taliban, sondern aller, die mit Schadenfreude und Genugtuung das Debakel der USA und Europas in Afghanistan verfolgen? Ganz einfach: Am 11. September 2021, zwanzig Jahre nach 9/11, rücken die Gotteskrieger als Sieger in Kabul ein, zünden die amerikanische Botschaft an und verkünden im Regierungssitz des afghanischen Präsidenten, dass das Islamische Kalifat jetzt wieder die Kontrolle über das ganze Land innehabe – nach zwanzig Jahren des beharrlichen Kampfes und mit der Hilfe Allahs sind die Ungläubigen für immer vertrieben worden!

Die nicht bloß klammheimliche Freude, die an vielen Orten angesichts dieser beschämenden Niederlage des Westens empfunden würde, ist nicht schwer vorzustellen. Mag man die Taliban auch in Teheran, Moskau oder Peking nicht besonders, für diese Show würden ihnen alle selbsterklärten Antiimperialisten weltweit auf ewig dankbar sein.

Afghanistan, 1991

Vielleicht lohnt sich die Erinnerung daran, dass 2021 nicht nur der Jahrestag von 9/11 ist, sondern dass auch zehn Jahre zuvor viel geschah. Damals fand nicht nur der Krieg um Kuwait statt, sondern Ende des Jahres 1991 wurde die Sowjetunion, schon damals nur noch ein Gespenst ihrer selbst, aufgelöst. Erinnert sich noch wer an Boris Jelzin, der im August den Panzern die Stirn bot? Zwei Jahre zuvor war der letzte Rotarmist aus Afghanistan abgezogen, im Westen herrschte Jubel über diese Niederlage Moskaus am Hindukusch, und die von den USA ausgerüsteten Mudschaheddin galten in der antikommunistischen Denkschablone als wahre Freiheitskämpfer.

Die Niederlage in Afghanistan war zwar nur eine der vielen Ursachen für den Zerfall der Sowjetunion, aber sicher eine der wichtigeren. Doch 1991 war auch das Jahr, in den Osama bin Laden mit seinen in Afghanistan gestählten Dschihadisten dem Westen den Krieg erklärte, weil ungläubige US-Soldaten von heiligem saudischem Boden aus einen Krieg gegen den Irak führten. Damals nahm niemand die al-Qaida so wirklich ernst, aber zehn Jahre später bewies die Terrorgruppe, wie ernst sie es meinte. Dschihadisten haben einen langen Atem und wissen sehr genau um die Schwächen westlicher Politik und westlicher Kriegsführung.

Der Sieg über die Sowjetunion in Afghanistan hatte seinen Preis, und der bestand aus zehntausenden mit amerikanischen Waffen ausgerüsteten Milizionären, die sich bald gegenseitig an die Gurgel gingen. Er bestand auch aus Millionen von Flüchtlingen, die perspektivlos in Pakistan vor sich hinvegetierten und dort zu Rekruten der Taliban wurden, die, man sollte es nie vergessen, in den Lagern in Pakistan entstanden – mit tätiger Mithilfe des pakistanischen Staates, der sich mit ihnen ein willfähriges Werkzeug schuf, um später in Afghanistan die Kontrolle zu übernehmen.

Damals finanzierten sich diese Taliban noch nicht vornehmlich mit dem Opiumgeschäft, sondern erhielten reichlich Spenden von reichen Gönnern am Golf. (Es gehört zu den Absurditäten der letzten Jahrzehnte, dass diese Golfstaaten ebenso wie Pakistan zu den engsten Alliierten der USA in der Region zählen.)

Nach 1991 überließ der Westen Afghanistan seinem Schicksal, und 1996 wurde Kabul schon einmal von den Taliban eingenommen. Damals waren dort freilich keine westlichen Truppen stationiert gewesen, sodass die Niederlage der Regierung in Kabul, einem fragilen Bündnis zerstrittener Warlords, als regionales Problem gewissermaßen zu den Akten gelegt werden konnte.

Damals die Tragödie, heute die Farce

Das markiert – so sehr auch der Eindruck entstehen mag, Geschichte würde sich bloß wiederholen – den Unterschied: Heute ist es nicht die Macht skrupelloser Warlords, sondern die Glaubwürdigkeit der USA, Europas oder allgemein des Westens, die in der absehbaren Eroberung der Hauptstadt durch die Taliban in die Brüche geht.

Daraus folgt nicht notwendigerweise, dass es diesem Westen ähnlich ergehen wird wie zuvor der Sowjetunion, aber der Hinweis auf gewisse Parallelen ist auch nicht völlig abwegig. Wie die äußere Durchsetzungsfähigkeit der Sowjetunion im Staub der abziehenden sowjetischen Armee auf der Strecke blieb, muss man sich heute weltweit fragen: Nachdem der Westen in den vergangenen Jahren zuerst Syrien Russland und dem Iran überlassen hat und jetzt Afghanistan fluchtartig den Rücken zukehrt, warum sollte nach all den gebrochenen Versprechungen der letzten 20 Jahre noch irgendjemand Politikern aus Washington, Brüssel, Berlin, London oder Paris Glauben schenken?

Man kann sich gut vorstellen, wie Bashar al Assad seinen bedrängten afghanischen Amtskollegen anruft und ihm sagt: Das passiert, wenn man den Imperialisten traut. Schau mich an: Ich setzte auf Moskau und Teheran – die stehen, wenn auch manchmal etwas unwillig, doch fest an meiner Seite und lassen mich nicht fallen.“

Das ist die Lehre, die viele dieser Tage ziehen, während andere, deren Weltbild religiöser grundiert ist als das des syrischen Diktators, ganz sicher die Hand des Allmächtigen im Spiel sehen. Es muss Allahs Wille gewesen sein, den bestausgerüsteten Truppen der Ungläubigen eine solche Niederlage zuzufügen. Und das zwanzig Jahre nachdem die Türme in New York, Sinnbilder westlicher Dekadenz und Verkommenheit, von Kriegern Allahs zu Einsturz gebracht wurden. „Seht“, werden sie frohlocken, wir waren es, die die kommunistischen Teufel zu Fall brachten, und wir sind es, die den Großen Satan nun so demütigen, dass er sich davon nie wird erholen können. Dank sei Allah, dem Allmächtigen. Er hat uns zum Sieg geführt!“

Und wer kann’s ihnen verdenken? Sprechen die Bilder aus Afghanistan etwa eine andere Sprache, lassen sie andere Schlüsse zu? Was immer sich die Zuständigen im Weißen Haus gedacht haben mögen, den Abzug noch rechtzeitig vor dem 11. September zu beenden, ist die alles andere als nur symbolische Botschaft. Vielleicht glauben sie wirklich, sie würden endlich einen Krieg beenden, den der von ihnen so ungeliebte George W. Bush vom Zaun gebrochen hat, und damit ein Kapitel der amerikanischen Geschichte schließen, mit dem sie nie etwas anfangen konnten. Vielleicht hegen sie auch die innenpolitische Hoffnung, dass am Ende Donald Trump als der Schuldige dastehen wird, der dieses irrwitzige „Friedensabkommen“ mit den Taliban geschlossen hat.

Wie auch immer: Die glasklare Botschaft, die von seinen Todfeinden und seinen (noch) Verbündeten in aller Welt verstanden wird, lautet: Der Westen ist schwach, und jeder wird den Sieg davontragen, der sich ihm nur entschlossen genug entgegenstellt – zumal, wenn er auch die richtigen, weil konsequenten – Partner an seiner Seite weiß. Diese Botschaft ist übrigens nicht mehr ohne Weiteres revidierbar, selbst wenn jetzt doch wieder Truppen nach Afghanistan entsendet würden, um für Kabul noch ein paar Monate Zeit zu gewinnen.

Erpressbar gemacht

Wahrscheinlich ist das ohnehin nicht; vielmehr käme es in diesen Tagen nicht überraschend, würde den Taliban bei den absurden Verhandlungen in Katar stattdessen Geld angeboten, damit sie bis zum Jahrestag von 9/11 wenigstens nicht in Kabul einmarschieren. Glaubt irgendjemand ernsthaft, das Geschwätz voller Stichworte wie „Dialog“, „Friedensprozess“, „Regierung der nationalen Einheit“ etc. beeindruckt einen der Bärtigen? Oder dass Drohungen, man werde ihr Emirat nicht anerkennen oder Hilfsgelder einstellen, die Taliban in Angst und Schrecken versetzen?

In Wahrheit hat der Westen den Taliban wenig anzubieten, ist im Gegenzug aber in großem Maße erpressbar. Jederzeit kann ein Anruf in Berlin oder Paris ankommen: „Hallo hier sprechen die Taliban. Entweder ihr zahlt diesen oder jenen Betrag, oder wir jagen eine Million Afghanen über die Grenzen. Viel Spaß dann mit der nächsten Flüchtlingskrise. Was Bashar al Assad 2015 konnte, können wir schon lange!“

Und dann? Werden die Europäer dann dem iranischen Regime Geld für einen Grenzzaun nach türkischem Vorbild zahlen, damit ja keine Afghaninnen und Afghanen mehr das Land verlassen können? Die Europäer beginnen erst langsam zu verstehen, wozu ihre Politik, basierend auf Expertenstudien über Migrationsabwehr, Push- und Pull-Faktoren oder wie es sonst noch alles heißt, geführt hat: Dazu, dass zwei der wichtigsten Herkunftsländer aller Flüchtlinge – Syrien und Afghanistan – inzwischen solche Höllenlöcher geworden sind, dass nicht einmal mehr Straftäter dorthin abgeschoben werden können. (Aller populistischen Rhetorik zum Trotz, die gerade von manchen österreichischen Politikern noch immer zu hören ist.)

Vielleicht schaffen es die USA, mit einer neuen isolationistischen Politik, über das Debakel einigermaßen, wenn auch nicht unbeschadet hinwegzukommen. Solange von Afghanistan kein neuer Terroranschlag ausgeht, braucht es sie nur bedingt zu scheren, was dort vor sich geht. Für Europa sieht es ganz anders aus: Schon die Flüchtlingskrise 2015 hat den Kontinent bis auf die Grundfesten erschüttert, eine abermalige wird Europa vor noch größere und existentielle Probleme stellen.

Gerade deshalb folgt man den Szenen aus Afghanistan mit so großem Staunen, Entsetzen und Fassungslosigkeit: Die europäische Außenpolitik ist nicht nur zutiefst unmoralisch und kurzsichtig, sondern sie erweist auch als konterproduktiv und selbstdestruktiv – oder anders gesagt: als unfassbar dumm, schafft sie es doch nicht einmal, in ihrem eigenen Interesse das Richtige zu tun. Man will sich gar nicht vorstellen, wie man in zehn oder zwanzig Jahren auf das Jahr 2021 zurückblicken wird.

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