Michael Blume: Alphabet und Antisemitismus

(Michael Blume - Council of Europe, CC BY 3.0, WikiCommons)

Von Ingo Elbe

Der baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte und Religionswissenschaftler Michael Blume entwickelt in seinem neuen Buch „Warum der Antisemitismus uns alle bedroht. Wie neue Medien alte Verschwörungstheorien befeuern“ einen hochspekulativen und überhistorischen Antisemitismusbegriff, der nicht überzeugen kann.

Ausgangspunkt ist der medientechnische Determinismus Marshall McLuhans („The Medium is the Message“). Blume meint, dass Medien „die Botschaft bis ins innerste Erleben hinein“ (94) prägen, und überträgt diesen Gedanken auf das Phänomen des Antisemitismus. Zunächst entstehe „aus ‚semitischen Wurzeln‘ im regionalen Umkreis des heutigen Israel“ (103) das „Medium der Alphabetschrift“ (105), das drei grundlegende mythologische Inhalte, den von Blume so genannten „Semitismus“, hervorbringe, gegen die sich der Antisemitismus „bis heute stemmt“ (105):

Erstens verlange das Lesen der Alphabetschrift eine lineare, in der Zeit sich vollziehende Erschließung der Wort- und Satzbedeutung: „Ob sich ‚Wu‘ in ‚Wurm‘ oder ‚Wunder‘ vollendet, erschließt sich den Alphabetlesenden erst in der Zukunft.“ (106) Aus dieser medialen Form leitet Blume nun unmittelbar einen weltanschaulichen Inhalt ab: „Alphabetschriften etablieren also [!] nicht nur buchstäblich eine Ge-Schichten-Schreibung, sondern auch ein lineares Fort-Schritt-Verständnis mit einem hoffnungsvollen, messianischen Ziel.“

Mit diesem in keiner Weise stichhaltigen Argument reproduziert Blume nicht nur die längst widerlegte Säkularisationsthese, der zufolge aus der religiösen monotheistischen Heilslehre das moderne Fortschrittsdenken in nationalistischen, sozialistischen und sonstigen humanistischen Weltbildern hervorgehe, die damit als „semitisch-säkulare Ideologien“ bezeichnet werden (106).[1] Er verpflichtet damit den Anti-Antisemitismus zudem – und das angesichts der Tatsache, dass das Äußerste, die Vernichtung von 6 Millionen Juden, bereits schon einmal geschehen ist – auf ein konformistisches „Gott- und Weltvertrauen“ (172), auf eine optimistische Gestimmtheit, und die Annahme, dass „trotz aller Rückschläge und Verbrechen von einem aufsteigenden Fortschritt“ auszugehen sei (168). Auschwitz wird zum „Rückschlag“ in einer eigentlich sinnerfüllten, hoffnungsfroh stimmenden Geschichte, die „von guten Mächten regiert wird“.[2]

Zweitens individualisiere das Lesen oder Schreiben, kehre ab von „aufpeitschenden“ öffentlichen Reden und lehre damit zugleich die Idee der „Rechtssicherheit für alle Menschen“ (108).

Dies führt schon zum dritten vermeintlich mediendeterminierten Inhalt des „Semitismus“: der Idee von „Gleichwertigkeit statt Sklaverei“. Wenn man sich schon bei Punkt eins und zwei fragt, wie es Blume gelingt, die weltanschaulichen Inhalte aus der medialen Form Schrift mittels fragwürdiger Analogien herauszuzaubern, so erscheint die Begründung für Punkt drei geradezu obskur: „Der bislang älteste Schriftfund in hebräischer Sprache“, so Blume, behandle nämlich „Fragen der menschlichen Würde“. Und was steht dort? Man solle „nach Recht für den Sklaven“ trachten und „den Armen und den Sklaven“ schützen. (109) Ganz offenbar wird damit nicht die Institution der Sklaverei negiert, sondern vorausgesetzt und affirmiert.

Michael Blume: Alphabet und Antisemitismus
„Das ellend iamerig und trostlose volck der iuden… hat das allerhailigst sacrament vilfeltiglich gestochen … do warden die iuden … mit gepürlicher peen des tods gestraft.“ Aus der Schedelschen Weltchronik von 1493

Diese drei mediendeterminierten Inhalte seien den großen monotheistischen, wie Blume meint, „semitischen“ Religionen Judentum, Christentum und Islam gemeinsam. Gegen diese Mythologeme wende sich nun der ‚Anti-Semitismus‘: An dessen Grund stehe das „Unbehagen an der Schrift“ (113), die an die Stelle des Erlebnisses mündlicher Überlieferung im sozialen Nahverhältnis von Lehrer und Schüler das individuelle Lesen und Schreiben setze. Statt linearer Fortschrittsgeschichte mit hoffnungsfroher Zielerwartung wird, erstens, eine zyklische Geschichtsauffassung der ewigen Wiederkehr „von Aufstieg und Verfall“ (95) gesetzt; an die Stelle des ruhigen Lesens und Schreibens treten, zweitens, öffentliches „Gebrüll und Gefühle“ (108); und an die Stelle der Idee der Gleichwertigkeit werden, drittens, die Konzepte der Ungleichheit und Abstammung gesetzt.

Wenn man nun fragt, warum die systematische Judenfeindschaft sich historisch zuerst und vor allem im Christentum und dann im Islam entwickelt und warum die Antisemiten über 2000 Jahre hinweg das Bedürfnis nach der Rückkehr hinter die Schrift bewahrt haben, so wird man enttäuscht. Zunächst scheint es, dass die angeblich „semitischen“ Religionen plötzlich irgendwie antisemitisch werden, dann wird dieser Prozess aber im Falle des Christentums wie des Islams wieder mit einer Veränderung der Schrift erklärt, in der ihre Überlieferungen verfasst wurden (vgl. 117, 128).

Heilsgeschichtliche Inhalte und religiöse Konflikte sind bloße Randphänomene in der mediendeterministischen Welt Blumes. Der entscheidende Wandel im Christentum seien die „vokalisierte[n] Alphabete“ des Griechischen und Lateinischen, die die Mehrdeutigkeit „vokalarmer“ Alphabete, wie des Hebräischen, zugunsten semantischer Vereindeutigung verlassen hätten, was Blume zufolge offenbar mit Intoleranz und Ausgrenzung verbunden ist: Es wird die „tiefe Wahrheit“ beschworen, dass mit der Vokalisierung von Alphabeten die Forderung nach Eindeutigkeit einhergehe und damit auch der Antisemitismus „befeuert“ worden sei. (141) Jetzt sind die Aufklärer, Marxisten und Nationalisten, vorhin noch „Semiten“, plötzlich antisemitisch (141), wie übrigens auch Religionskritiker im Text vornehmlich als Antisemiten eingeführt werden (61ff.).

Michael Blume: Alphabet und Antisemitismus
Das Massaker am jüdischen Stamm der Banu Qurayza

In Blumes Welt gibt es zwar immer wieder neue Medien, aber seit 2000 Jahren keine wirkliche historische Veränderung mehr, vor allem keine gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich mit der kapitalistischen Moderne radikal gewandelt und damit auch der Judenfeindschaft ein neues ideologisches Bezugssystem gegeben haben.[3] Genauso wie Blume von der medialen Form unmittelbar auf einen semantischen Gehalt schließt, springt er vermittlungslos von jüdischen Gelehrten des 6. Jahrhunderts v.u.Z. zur modernen Presse (121), vom Kalifen Uthman zum „heutigen Nahostkonflikt“ (sic!) (129). Warum die Juden in einer Welt von Nationalstaaten zum ‚Feind der Völker‘ und zur ‚Figur des Dritten‘[4] aufsteigen (und damit alte Topoi der Judenfeindschaft sich auf gänzlich areligiöser und moderner Basis reproduzieren und modifizieren), warum rechte Sozialdarwinisten, die keineswegs nur zyklische Weltbilder oder bloße Verfallsgeschichten vertreten,[5] ebenso antisemitisch sein können wie leninistische oder sozialdemokratische Fortschrittsoptimisten, bleibt ebenso unklar, wie die Frage der gesellschaftlichen Faktoren, die eine antisemitische Triebstruktur begünstigen.

Am Ende soll die Beschwörung gemeinsamer „semitischer“ Wurzeln, sollen der Sprung in den Glauben ans Gute in der Geschichte und eine ebenso dezisionistische „Wahl“ uns vor Antisemitismus schützen: Wir hätten „eine Wahl, wie wir unseren Geist möblieren“, d.h. welche Medien wir verwenden, welche Mythen wir glauben und ob wir uns der rhetorischen Rede oder dem ruhigen Lesen zuwenden (170). Am Ende steht aber auch die Behauptung, alle, die in der Tradition des „Semitismus“ stünden, seien die potenziellen Opfer des Antisemitismus. Aufgezählt werden unter anderem: „Freimaurer und Illuminaten“, „Marxisten, Humanisten, Sinti und Roma“, „Yeziden“, „US-Amerikaner und Kurden“, „Protestanten und Katholiken“, „Schiiten, Sunniten, Aleviten“, „Ärzte“ und „empirisch forschende Wissenschaften“ (sic!) (171).

Den projektiven Charakter des Antisemitismus, die Tatsache, dass er Elemente (wie Antiintellektualismus oder politischen Antiliberalismus) enthält, die auch Nichtjuden treffen können und die Möglichkeit, antisemitische Verschwörungsmythen mit rassistischen und xenophoben Ideologien zu kombinieren, all das vereinigt Blume zu der These, ‚wir alle‘ seien vom Antisemitismus bedroht. Das ist aber ein Fehlschluss. Es sind die Juden, die im Antisemitismus vom Planeten vertilgt werden sollen, während die (nichtjüdischen) Liberalen oder Kommunisten sich der Ideologie zufolge ändern können und den rassistisch Diskriminierten wenigstens eine subalterne Überlebensmöglichkeit oder gar ethnopluralistisch ein Ort der legitimen Differenz zugestanden wird. In Verbindung mit seiner These von den semitischen Religionen führt das Blume letztlich zu genau der Entspezifizierung des Antisemitismus, die er am Anfang des Buches (allerdings ohne jede theoretische Fundierung) noch zu vermeiden trachtet. Dass er dabei zwar an einigen Stellen des Buches den „islamistischen“ Judenhass erwähnt, den konservativen Mehrheitsislam aber schließlich mit dieser Opferaufzählung und selektiven Koranzitaten („Wer ein menschliches Wesen tötet … so ist es als ob er alle Menschen getötet hätte“ (44))[6] doch wieder verharmlost, sei nur am Rande erwähnt.

Blumes wirre Abhandlung kreist ein ums andere Mal um die Person Michael Blume und seine guten Taten und ergeht sich nicht selten in Allerweltsfloskeln („Und so, wie es noch keine Generation und kein Volk ohne Bosheit gab, so gab es auch keine ohne Güte.“ (169)). Er will zwar die „tiefen Ursachen des Antisemitismus“ aufklären (170), ignoriert aber souverän die gesamte moderne Antisemitismusforschung und versteigt sich am Ende zu der Forderung, man müsse Religionen und Weltanschauungen ebenso schützen wie Menschen: „Deswegen dient der Kampf gegen Antisemitismus keinesfalls nur dem Schutz jüdischen Lebens oder des israelischen Staates – sondern dem Schutz aller Menschen, Religionen, Weltanschauungen und Staaten.“ (171)

Sätze wie diese sind nicht nur ein Indiz für einen missratenen Antisemitismusbegriff, sondern auch für ein fragwürdiges Verständnis von moderner Religions- und Meinungsfreiheit. Sie werfen auch ein neues Licht auf die Tatsache, dass Blume bisweilen polemisch vorgetragene, aber keineswegs unsachliche Kritik an seiner Praxis als Antisemitismusbeauftragter und seiner Vorstellung von Antisemitismus mit haltlosen Rassismusvorwürfen abkanzelt.[7]

Anmerkungen:

[1] Zur Kritik vgl. u.a. Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 2. Aufl., Frankfurt/M. 2007, S. 50, 74, 340.

[2] Zitat Blume nach: https://www.deutschlandfunkkultur.de/religionswissenschaftler-michael-blume-antisemitismus.1278.de.html?dram:article_id=446293: „Ob jemand semitisch oder antisemitisch drauf ist, hat nichts mit Herkunft, Religionszugehörigkeit oder sogar Genetik zu tun, sondern da geht es im Kern um die Frage: Glaube ich, dass diese Welt von guten Mächten regiert wird – die semitische Einstellung, der Regenbogen als Zeichen von Gott, der eine Welt sozusagen sichert, der sagt, es wird nie wieder eine Sintflut kommen, als eine Zusage des Vertrauens – oder glaube ich, dass böse Mächte, dass Verschwörer diese Welt regieren? Das ist der große Bruchpunkt.“

[3] Vgl. zuletzt dazu überzeugend: Jan Weyand, Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus, Göttingen 2016; Lars Rensmann, The Politics of Unreason. The Frankfurt School and the Origins of Modern Antisemitism, New York 2017; Samuel Salzborn, Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne, Weinheim/Basel 2018.

[4] Vgl. Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Neuausgabe, Hamburg 2010.

[5] Vgl. u.a. H. St. Chamberlain, dazu auch Patrik von zur Mühlen, Rassenideologien. Geschichte und Hintergründe, Berlin/Bonn 1977, S. 99 sowie Karin Priester, Rassismus. Eine Sozialgeschichte, Leipzig 2003, S. 228f.

[6] Was in Sure 5 darauf folgt, wird nicht erwähnt: „Unsere Gesandten sind bereits mit klaren Beweisen zu ihnen gekommen. Danach aber sind viele von ihnen wahrlich maßlos auf der Erde geblieben. Der Lohn derjenigen, die Krieg führen gegen Allah und Seinen Gesandten und sich bemühen, auf der Erde Unheil zu stiften, ist indessen (der), daß sie allesamt getötet oder gekreuzigt werden, oder daß ihnen Hände und Füße wechselseitig abgehackt werden, oder daß sie aus dem Land verbannt werden. Das ist für sie eine Schande im Diesseits, und im Jenseits gibt es für sie gewaltige Strafe, – außer denjenigen, die bereuen, bevor ihr Macht über sie habt. So wisset, daß Allah Allvergebend und Barmherzig ist.“

[7] Es handelt sich vor allem um die Kritik der jüdischen AktivistInnen Malca Goldstein-Wolf und Emrah Erken. Zum Verlauf der Kontroverse vgl. die sachliche Darstellung der „Werteinitiative“ aus Berlin unter: https://werteinitiative.de/online-streit-zwischen-einer-juedischen-aktivistin-und-einem-profi-es-reicht/

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