Von Florian Markl
Als er 2015 zum Vorsitzenden der Labour Party gewählt wurde, hat kaum jemand gedacht, dass der langjährige Parlamentshinterbänkler Jeremy Corbyn jemals britischer Regierungschef werden könnte. Heute, vier Jahre später und inmitten des nicht enden wollenden Brexit-Chaos, scheint dagegen nicht mehr unmöglich, dass 10 Downing Street doch einmal von dem farblosen Alt-Linken bewohnt wird, der freundschaftliche Gefühle für islamistische Terrororganisationen wie Hisbollah und Hamas hegt und unter dessen ideologischen Überzeugungen vor allem eine vehemente Ablehnung Israels hervorsticht. Wie israelbezogener Antisemitismus in genau dem linksliberalen Milieu formuliert wird, in dem Corbyn seine Gefolgschaft findet, untersucht eine unlängst veröffentlichte linguistische Studie.
Analogien im nationalen Kontext
Für seine dem Buch „Analogien der ‚Vergangenheitsbewältigung‘. Antiisraelische Projektionen in Leserkommentaren der Zeit und des Guardian“ zugrundeliegende Dissertation untersuchte Matthias J. Becker die Sprachgebrauchsmuster des israel-bezogenen Antisemitismus in über 6.000 Leser-Kommentaren in den Online-Foren der deutschen Zeit und des britischen Guardian. Die analysierten Wortmeldungen stammen aus zwei Untersuchungszeiträumen, in denen der palästinensisch-israelische Konflikt in den Medien prominent vertreten war: aus der Woche vom 14. bis zum 21. November 2012, in der die israelische Luftwaffe mit der Operation „Pillar of Defense“ auf zunehmenden Raketenbeschuss durch die Hamas aus dem Gazastreifen regierte, und aus der Zeit der „Operation Protective Edge“ vom 8. Juli bis zum 26. August 2014, der bis dato letzten größeren militärischen Konfrontation zwischen der Hamas und Israel.
Becker interessiert sich für die „Sprachgebrauchsmuster, die israel-bezogenen Antisemitismus mit einer Stärkung des nationalen Selbstbildes verknüpfen“ (32). Grundlegend ist für ihn die Erkenntnis, dass die in den Leser-Kommentaren zum Ausdruck kommende Dämonisierung des jüdischen Staates vor allem in Form von Analogien formuliert wird: Die Schreiber bemühen die aus der jeweiligen nationalen Geschichte stammenden Verbrechen bzw. historischen Ungerechtigkeiten und projizieren diese auf Israel. Während bei den Zeit-Leserkommentaren Analogien mit dem Nationalsozialismus im Vordergrund stehen, sind es im Falle der Guardian-Leser Analogien mit dem britischen Empire, dem Kolonialreich und der südafrikanischen Apartheid.
Deutscher Entlastungsantisemitismus
Becker führt anhand von Umfrageergebnissen aus, dass der Nationalsozialismus und der Holocaust zwar nicht mehr allgemein das zentrale Problem nationaler Identitätsfindung in Deutschland darstellten, sehr wohl aber „bei der Thematisierung des Nahostkonflikts oder auch von gegenwärtigem Antisemitismus in Deutschland“ (71). Die Wahrnehmung von jüdischem Leben und insbesondere von Israel wird maßgeblich von der NS-Vergangenheit und der systematischen Ermordung der europäischen Juden determiniert. Finden NS-Analogien in Bezug auf Israel Anwendung, so werden damit die NS-Verbrechen gleichermaßen relativiert wie Israel dämonisiert wird. Die Opfer von damals, so die durchaus gängige Behauptung, seien zu den Tätern von heute geworden. Die Gleichsetzung Israels mit Nazi-Deutschland ist eine Form des Entlastungsantisemitismus im Post-Holocaust-Deutschland.
Im linksliberalen Milieu der Zeit-Leserschaft dienen entsprechende Analogien und Anspielungen ferner dazu, die deutsche Lern- und Läuterungsfähigkeit unter Beweis zu stellen – und daraus eine weitere Anklage des jüdischen Staats zu konstruieren:
„In ihrer Perspektivierung zeichnen Kommentatoren das Bild einer geschichtssensiblen, moralisch integren Wir-Gruppe, die aus ihren Fehlern gelernt habe. Nun sei es an den Israelis, aus der Geschichte zu lernen und nicht dieselben Fehler zu machen, die einst von den Deutschen ausgingen.“ (241)
Die explizite Gleichsetzung Nazi-Deutschlands mit Israel stellt unter den gebildeten und geschichtsbewussten Zeit-Lesern eine Rarität dar. Umso öfter fanden sich dagegen implizite Vergleiche in Form von rhetorischen Fragen („Wo ist der Unterschied?“), Anspielungen durch bestimmte Wörter (z.B. „Ghetto“), die Verwendung von NS-Vokabular bei der Erörterung israelischen Handelns („Lebensraum“, „Vernichtungskrieg“, „Herrenmenschen“, „Endlösung“, „Palästinenserfrage“ etc.) und offen gehaltene Anspielungen („Das erinnert mich an unsere Geschichte.“). Die Leser können mit ihrem Wissen die Bedeutung der impliziten Anspielungen mühelos erschließen, die Schreiber den antisemitischen Gehalt ihrer Aussagen aber unter Verweis auf den wörtlichen Text in Abrede stellen und damit pro forma der weitgehenden öffentlichen Tabuisierung antisemitischer Argumentationen Folge leisten.
Bemerkenswert ist, dass die Zahl an Kommentaren mit NS-Analogien im Untersuchungszeitraum 2014 im Vergleich zu 2012 sowohl quantitativ wie qualitativ stark angewachsen ist. Machten sie im Text-Korpus zur Operation „Pillar of Defense“ noch 6,2 Prozent aus, so waren es während der „Operation Protective Edge“ bereits 13,7 Prozent. Binnen nicht einmal zwei Jahren hat sich die Zahl entsprechender Kommentare nicht nur quantitativ mehr als verdoppelt, sondern in ihrer inhaltlichen Vielfalt auch qualitativ verbreitert.
Britischer Entlastungsantisemitismus
Auch in der Zeit finden sich gelegentlich Fälle jener Einseitigkeiten und Verzerrungen, die in vielen Medien nur allzu oft die Darstellung Israels charakterisieren. Nichtsdestotrotz stellen sich Leser, die sich in ihren Kommentaren betont antiisraelisch äußern oder israelbezogenen Antisemitismus zum Ausdruck bringen, klar in Gegensatz zur Blattlinie.
Im Falle des britischen Guardian sieht die Sache entschieden anders aus. Hier beschränken sich explizit israelfeindliche Äußerungen nicht auf Leserkommentare, sondern finden sich auch in Artikeln der Zeitung selbst. Immer wieder werden auch Beiträge (Karikaturen etwa) abgedruckt, die nicht nur die generell einseitige antiisraelische Schlagseite des Guardian repräsentieren, sondern nach Ansicht von Media-Watch-Organisationen und anderen Kritikern die Grenze zum israelbezogenen Antisemitismus überschreiten. Der Guardian „stellt im britischen Mainstream ein israelkritisches bis teils -feindliches Medium dar, in welchem antisemitische Stereotype reproduziert werden.“ (41) Leser, die sich antiisraelisch oder gar antisemitisch äußern, tun dies also in zumindest teilweiser Übereinstimmung mit dem Blatt.
Wie Becker betont, stellt der Guardian mit seiner kritischen Sicht der britischen Empire- und Kolonialvergangenheit eine Ausnahme in der britischen Medienwelt und der darüber hinausgehenden Öffentlichkeit dar, in der Stolz auf das Land und dessen Geschichte (inklusive des Kolonialismus mit all seinen Verbrechen) weit verbreitet ist. Beim Guardian fallen eine distanziert-kritische Haltung zu wesentlichen Aspekten britischer Vergangenheit und das Bedürfnis, sich von der Last dieser Vergangenheit zu befreien, mit einer ausgeprägt antiisraelischen Haltung zusammen. Der jüdische Staat erscheint dergestalt als aktualisierte Fortsetzung der verachteten Aspekte britischer Kolonialgeschichte.
„Durch die dämonisierende Behauptung, Israel betreibe eine solche Form der Herrschaftsausübung im 21. Jahrhundert, werden Kolonialverbrechen in der britischen Vergangenheit relativiert und die britische Wir-Gruppe entlastet“. (301)
Klarerweise setzt Becker nicht die gelinde gesagt unrühmlichen Seiten der britischen Kolonialvergangenheit mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gleich, aber als Ergebnis der besonderen ideologischen Gemengelage des Guardian konstatiert er eine spezifisch britische Ausprägung eines Entlastungsantisemitismus:
„Die Effekte in Bezug auf die Perspektive der Wir-Gruppe auf historische Verbrechen ähneln somit jenen, die im Zeit-Diskurs bei der Etablierung der NS-Analogie einsetzen.“ (Ebd.)
An die Stelle der NS-Analogien bei der Zeit treten bei den Leser-Kommentaren beim Guardian Bezüge zur Herrschaftsausübung des britischen Empires, dem britischen Kolonialreich und dem südafrikanischen Apartheidregime, für dessen Entstehung Großbritannien mitverantwortlich gemacht wird. Indem Israel als Kolonialstaat präsentiert wird, wird ihm unterstellt, gegenüber den als „indigen“ wahrgenommenen Palästinensern einen ebenso ausgeprägten Rassismus zu pflegen, wie die britische Kolonialmacht ihn einst gegenüber Unterworfenen weltweit an den Tag legte:
„Im Zuge der durch Kolonialismus-Vergleiche eingeleiteten dichotomen Wahrnehmung des Konflikts werden Israelis als fremde Europäer, als weiße Eindringlinge perspektiviert, die koloniale Verbrechen an der indigenen Bevölkerung verüben würden.“ (304)
Neben der offenkundigen Dämonisierung des jüdischen Staates als durch und durch rassistisch wird ihm – der vermeintlich letzten Verkörperung des verabscheuungswürdigen europäischen Kolonialismus – jegliche Existenzberechtigung abgesprochen. Mit der Gleichsetzung von Palästinensern und früheren Opfern des britischen Empire wird der terroristische Krieg von Gruppen wie der islamistischen und antisemitischen Hamas zum legitimen antikolonialen Kampf aufgewertet.
Deutlich präsenter als in den Zeit-Korpora sind in den Guardian-Leserkommentaren Aufrufe zur Beseitigung Israels, sei es durch die Forderung nach militärischen Interventionen von außen oder durch die Forderung nach der Abschaffung von angeblich existierenden Strukturen rassistischer Unterdrückung, die als grundlegend für den jüdischen Staat betrachtet werden. Insbesondere der Apartheidvorwurf wird oft mit expliziten wie impliziten Zerstörungsforderungen gegenüber Israel verbunden.
Becker verfolgt diesen Punkt nicht weiter, aber an dieser Stelle drängt sich eine Vermutung auf: Der Apartheidvorwurf gegenüber Israel wird in Deutschland und Österreich vor allem von Propagandisten der Israelboykottbewegung BDS benutzt. Ein Grund dafür, dass dieser Kampagne hier bislang äußerst wenig Erfolg beschieden war, könnte sein, dass der Apartheidvorwurf einfach aus der internationalen Boykottbewegung übernommen wurde, zu deren Entstehen vor allem Agitatoren aus dem britischen akademischen Milieu beigetragen haben. In deren Umfeld mag diese spezifische Diffamierung des jüdischen Staates zugkräftig sein. Die simple Verlagerung dieses britisch geprägten Diskurses in den deutschsprachigen Raum scheint nicht zu funktionieren, weil er an die hiesigen nationalen Kontexte, die eben nicht von Debatten um den Kolonialismus und die Apartheid, sondern vor allem vom Nationalsozialismus und Holocaust geprägt sind, nicht anschlussfähig ist.
Ein vergleichender, linguistischer Blick
Eine der Stärken von Beckers Studie besteht in der vergleichenden Perspektive, die er in seiner Untersuchung einnimmt. Die besondere Wirkung, die der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auf die Debatten über Israel im deutschsprachigen Raum hat, ist in den vergangenen Jahren schon mehrfach thematisiert worden. Mit der Analyse der spezifisch britischen Variante eines Entlastungsantisemitismus gibt Becker aber einen Einblick in einen Diskurs, der oberflächlich zwar vielerlei Gemeinsamkeiten aufzuweisen scheint, im Hinblick auf die verwendeten Analogien und Anspielungen aber doch ganz anders gestrickt ist.
Becker hat eine detaillierte Untersuchung der in diesem besonderen politischen Milieu relevanten Sprachgebrauchsmuster vorgelegt. Die Herkunft der Studie aus dem linguistischen akademischen Betrieb, die sich in ausgiebiger Verwendung linguistischer Fachtermini selbst in Passagen niederschlägt, die durchaus auch einfacher formuliert hätten werden können, macht die Lektüre leider nicht gerade einfach. Im Sinne einer breiteren Wirksamkeit ihrer interessanten Einblicke wären ihr sowohl eine entsprechende sprachliche Überarbeitung als auch ein erschwinglicherer Preis zu wünschen gewesen.
Becker, Matthias J.: Analogien der „Vergangenheitsbewältigung“. Antiisraelische Projektionen in Leserkommentaren der Zeit und des Guardian, Baden-Baden 2018, 79 Euro.