Daniela Segenreich führte mehrere Gespräche mit Ofrit Shapira Berman, Psychoanalytikerin und Spezialistin für Trauma an der Hebräischen Universität. Thema waren die Situation der Geiseln und ihrer Familien sowie die Chancen der Freigekommenen, wieder in ein normatives Leben zurückzufinden. Hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Inhalte:
Daniela Segenreich (DS): Professor Shapira, Sie arbeiten mit den Geiseln und ihren Familien sowie mit anderen vom Massaker des 7. Oktober 2023 Betroffenen. Was sehen Sie eineinhalb Jahre danach, gibt es neue Erfahrungswerte in der klinischen Arbeit?
Ofrit Shapira Berman (OS): Im Gegensatz zu anderen Traumata sehen wir bei unseren Patienten nach dem 7. Oktober oft keine Besserung, im Gegenteil, ihr Zustand verschlechtert sich teilweise sogar. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass dieses Trauma nicht in der Vergangenheit liegt, sondern weiter andauert, dass es für viele noch keinerlei Abschluss gibt, keinen Platz, an dem sie Ruhe finden können. Wir sehen Wut, Schmerz und Sorgen, Trauer und Depression und oft das Unvermögen, wieder jemandem trauen zu können.
Wenn jemand ein Kind oder andere ihm nahestehende Personen verloren hat, wofür dann noch weitermachen? Oft sind die Betroffenen dissoziiert oder sprechen darüber, dass sie nicht mehr leben wollen. Viele Familien haben ihr Heim verloren, zirka 10.000 sind immer noch evakuiert, das macht es nicht leichter. Am schlechtesten dran sind die Überlebenden der Nova-Party, die schreckliche Grausamkeiten, Morde und Vergewaltigungen miterlebt haben.
DS: Werden die zurückkehrenden Geiseln nach so langer Gefangenschaft, großteils in Tunneln und unter extrem schlechten Bedingungen, jemals wieder ein halbwegs normales Leben führen können?
OS: Der Zustand der noch lebenden und jetzt freigekommenen Geiseln ist klarerweise um einiges schlechter als der jener, die beim letzten Abkommen Ende 2023 freigelassen wurden. Grund sind der Zeitfaktor und die so lange andauernden physischen und psychischen Misshandlungen, die sie erdulden mussten. Diejenigen, die damals freigekommen sind, mussten zwar teilweise auch im Spital behandelt werden, doch jetzt werden die Menschen höchstwahrscheinlich für längere Zeit im Spital bleiben müssen – vor allem auch wegen ihrer physischen Verletzungen und Probleme. Wegen nicht behandelter Verletzungen werden sie teils komplizierte Operationen und vor allem viele Jahre eine Psychotherapie benötigen, vielleicht auch ein Leben lang.
Wir verstehen, dass nicht alle in den gleichen Konditionen gefangen gehalten werden. Wir wissen, dass manche täglich Gewalt ertragen müssen, sie werden geschlagen und misshandelt, bekommen nichts zu essen. Ein Teil ist alleine mit den Peinigern, ein anderer ist gemeinsam mit weiteren Israelis. Es gibt schweren sexuellen Missbrauch. Wäre es zu einer Schwangerschaft gekommen, wäre das eine Katastrophe.
Die fünf unlängst freigelassenen Soldatinnen sehen vielleicht äußerlich recht gut aus, aber nach der ersten Euphorie wendet sich das Blatt. Über die schlimmsten Erlebnisse ihrer Gefangenschaft können sie noch gar nicht sprechen. Da gibt es vielleicht Erinnerungen an Gerüche, Körpergefühl oder Geräusche, aber sie können das noch gar nicht alles in Worte fassen. Worüber sie inzwischen sprechen, ist der Moment ihrer Gefangennahme und wie sie gefesselt und hilflos für Stunden zusehen mussten, wie ihre Kolleginnen, ihre besten Freundinnen immer und immer wieder von den Terroristen angeschossen wurden und schließlich elendig verbluteten.
Heute wissen wir aber, dass die Männer im Gazastreifen teilweise unter noch schlimmeren Bedingungen festgehalten werden.
Vergleichbar?
DS: Gab es schon Vergleichbares, kann man sich auf Erfahrungswerte in der Therapie berufen?
OS: Was die Behandlung betrifft, so sind die Meinungen geteilt, ob es da einer neuen Methode der Traumatherapie bedarf. Tatsache ist, dass es beispielsweise so gut wie keine Erfahrungen mit zivilen Frauen gibt, die so lange unter solchen Bedingungen als Geisel gehalten wurden.
Andererseits ist vieles ähnlich wie bei komplexen PTSD (Posttraumatische Belastungsstörung), einer schweren traumatischen Störung, die aufgrund von ständigem Missbrauch innerhalb von Familien (oder in anderen Situationen von Abhängigkeit) entstehen kann: Von jemandem, der so gefährlich ist, für längere Zeit völlig abhängig zu sein – das zu bewältigen ist das inhaltliche Kernthema der Therapie. So eine Abhängigkeit führt auch zu einer Verwirrung in der Beziehung, denn der Kerkermeister ist vielleicht auch in manchen Momenten ein »guter Mensch«.
Und gleichzeitig befinden sich die Geiseln in einem anhaltenden Zustand ständiger Todesnähe, der ihnen eingraviert ist und auch danach noch lange in den Knochen stecken wird. Das ist es: Diese Beziehung zu demjenigen, der einen missbraucht, die ständige Todesgefahr und auch die psychologischen Manipulationen: dass den Geiseln beispielsweise eingeredet wurde, die Welt habe sie vergessen, Israel tue nichts, um sie freizubekommen usw. Diejenigen, die dennoch Zugang zu Medien hatten, sprechen immer wieder darüber, wie sehr ihnen das Wissen, dass in Israel so viele um ihre Befreiung kämpfen, geholfen hat.
Und um jede Geisel herum gibt es durchschnittlich zwanzig Menschen – Familie, nahe Freunde, Community –, die genauso wie die Entführten das Gefühl haben, dass ihr Leben am 7. Oktober 2023 zum Stillstand gekommen ist, solange sie noch jemanden im Gazastreifen haben. So eine Art von Massaker und Geiselnahme gab es in der westlichen Welt noch nicht. Es gab allerdings Ähnliches vom Islamischen Staat, wo Mädchen und Frauen geschändet und als Sex-Sklavinnen gehalten wurden.
DS: Kann man das Massaker vom 7. Oktober 2023 mit der Shoah vergleichen?
OS: Ich denke, in der westlichen Welt gibt es nur eine Shoah, aber es gibt viele Genozide und beim Massaker der Hamas gibt es vieles, das an die Shoah erinnert, inklusive der Unglaublichkeit, dass noch immer so viele die Sicht der Hamas und damit ihre Ideologie unterstützen. Und auch in ihrem Hass, der Brutalität und in ihrem Sadismus sind die Terroristen sicherlich mit den Nazis vergleichbar. Eltern wurden Zeugen von unglaublich sadistischen Gräueltaten an ihren Kindern und umgekehrt. Auch die Bedrohung ist ähnlich – wie in der Nazizeit will die Hamas alle Juden auslöschen. Aber im Gegensatz zur Nazizeit haben wir heute einen Staat und eine Armee.
Man fragt sich aber, was hält diese Menschen, die im Gazastreifen gefangen gehalten werden, am Leben? Sind es die gleichen Mechanismen und Kräfte wie in den Todeslagern der Nazis? Es ist mir beinahe unmöglich vorzustellen, was diese Menschen durchmachen mussten und dass es eine meiner Töchter sein könnte, die unter diesen Umständen im Gazastreifen festgehalten wird. Und ich würde mir wünschen, dass jeder, der dieses Interview liest, nur für einen Moment die Augen schließt und versucht, sich das vorzustellen. Wenn die Welt das nicht stoppt, was da geschieht, wird es weitergeschehen, auch in anderen Ländern. Das wäre das Ende der westlichen Welt, wie wir sie kennen.
Rückkehr ins Leben möglich?
DS: Können die Geiseln, wenn sie befreit werden, noch in ein »normales« Leben zurückfinden?
OS: Das ist individuell sehr verschieden und auch abhängig von den Bedingungen, unter denen sie festgehalten wurden. Die meisten von ihnen können vielleicht ein normatives Leben führen, aber die Besserung wird sehr lange dauern. Und es ist auch etwas in ihnen zerbrochen, das man nicht mehr kitten kann.
Und was, wenn jemand nach seiner Rückkehr entdeckt, dass seine Frau und Kinder ermordet wurden? Dort im Gazastreifen wissen sie beinahe nichts darüber, was hier geschehen ist. Und manche werden noch jahrelang nicht wissen, was mit ihrem Kind oder anderen Angehörigen wirklich geschehen ist.
Es ist also ein ganzes Paket voll von schrecklichen Dingen, mit denen die Geiseln und ihre Familien fertig werden müssen. Und der Zustand der Familien verschlechtert sich mit dem langen Warten immer mehr. Auch sind für diejenigen Familien, die noch immer nicht wissen, ob ihre Söhne oder Ehemänner leben und jemals freigelassen werden, diese letzten Wochen der Implementierung des aktuellen Abkommens extrem schwierig und ihr Verlust trifft sie noch stärker als zuvor. Sie versuchen, weiter für die Freilassung der Geiseln zu kämpfen, aber ihre Kräfte sind diesem Kampf oft nicht mehr gewachsen.
Nach dem Massaker gab es über fünfzig Familien, in denen beide Eltern ermordet wurden, in über dreißig Familien ist ein Elternteil getötet worden. Die Zahlen werden laufend aktualisiert. In einem Fall hat ein Mädchen ihre gesamte Familie verloren und blieb ohne Eltern, ohne Geschwister und ohne ihr Zuhause zurück. Und sie hat Gewalt erfahren und war teilweise auch Zeugin der Geschehnisse am 7. Oktober.
Mir fehlen die Worte, es gibt keine Worte, um all das Leid auszudrücken. Man kann nur für diese Menschen da sein, so viel Zeit es auch immer brauchen wird.
Da die staatliche Hilfe in Israel zur Behandlung der vielen Betroffenen nicht ausreichend zur Verfügung steht, hat Shapira Berman nach dem 7. Oktober 2023 mit einigen Kollegen – Ärzten und Psychoanalytikern – die Hilfsorganisation First Line Med (FLM) gegründet. Mittlerweile gehören der Organisation über 450 Psychoanalytiker an, die volontieren und den betroffenen Familien psychische Unterstützung geben.