Eine Zusammenfassung der Situation und der Überlebenschancen der israelischen Hamas-Geiseln aus medizinischer und psychologischer Sicht.
Daniela Segenreich
Seit Wochen schon fiebert nun ganz Israel gebannt der Freilassung von weiteren Geiseln entgegen. Und jede Woche stellen sich erneut die Fragen: Wer kommt diesmal frei? In welchem Zustand werden sie sein? Wird es klappen oder vielleicht im letzten Moment schiefgehen? Und wer wird nur mehr tot zurückkehren?
Die Spannung ist überall zu spüren und für die betroffenen Familien kaum zu ertragen. Mittwochabend wurde es dann zur grausamen Gewissheit: Shiri Bibas und ihre beiden Kinder, der zum Zeitpunkt seiner Entführung neun Monate alte Kfir und der damals vierjährige Ariel, die am 7. Oktober 2023 in den Gazastreifen verschleppt wurden und deren Bilder zum herzzerreißenden Symbol der Geiselnahme der Hamas wurden, sind unter den Toten, die diesmal an Israel »zurückgegeben« werden.
Damit sind auch die letzten Hoffnungssplitter ihres Vaters zerstört. Yarden Bibas wurde selbst erst vor einer Woche untergewichtig und blass vom Roten Kreuz nach Israel zurückgebracht. Als zusätzlicher Schlag erwies sich schließlich das Ergebnis der forensischen Untersuchung in Israel, bei der sich ergab, dass die von der Hamas als Shiri Bibas übergebene Leiche nicht Shiri Bibas ist, sondern von einer unbekannten Person stammt. Das Schicksal der Frau von Yarden und Mutter von Kfir und Ariel, deren Ermordung durch die gestrigen Untersuchungen bestätigt wurde, bleibt also weiter ungewiss.
Unvorhersehbare Folgen
Wie geht man mit diesen unbeschreiblichen Traumata um? Wie hoch sind die Überlebenschancen der noch lebenden Geiseln, die nun bereits seit über einem Jahr in der Gefangenschaft der Hamas sind? Und wie steht es um die Chance derjenigen, die freigelassen wurden, wieder in ein halbwegs »normales« Leben zurückzufinden?
Amir Blumenfeld, ehemaliger Trauma-Experte der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) und jetziger Leiter des medizinischen Teams, das für die Geisel und ihre Familien zuständig ist, nahm kürzlich bei einer Pressekonferenz zu diesen Fragen Stellung. Er betonte, dass es so ein enorm großes Ereignis von Geiselnahmen in der westlichen Welt noch nie zuvor gegeben habe und kam vor allem immer wieder auf den Zeitfaktor zu sprechen, der die Überlebenschancen der noch Festgehaltenen täglich verringert.
Diese Menschen werden nun seit über 500 Tagen teilweise in Tunneln festgehalten, ohne Tageslicht und mit oft nur etwa 300 Kalorien an Nahrung pro Tag, das sind zwanzig Prozent des täglichen Bedarfs eines Erwachsenen. Hinzu kommen sexueller Missbrauch und Folter, chronische Krankheiten, das Fehlen von Medikamenten (für schon vorher bestandene chronische Erkrankungen wie Diabetes oder Herzprobleme) und psychologische Manipulationen durch Peiniger. In der Gefangenschaft wurden sie von Läusen, Hautkrankheiten wie Scabies (Krätze) und Entzündungen geplagt.
Den Trauma-Experten und sein Team erwarten viele Krankheiten, auch bei denjenigen, die vorher in guter Kondition waren. Blumenfelds Ansicht nach müssen mittlerweile alle Geiseln ausnahmslos als humanitäre Fälle gelten. Die extreme Unterernährung (die bisher Freigelassenen wurden Wochen zuvor von der Hamas schon etwas »aufgepäppelt«), der Winter und der jetzige Kälteeinbruch stellen eine große Bedrohung für diese teilweise in Tunneln gefangenen und angeketteten Menschen dar, die keine Kräftereserven mehr haben. Zusätzlich sind sie, wie man von den Freigekommenen weiß, ständigem Psychoterror und Todesangst ausgesetzt.
»Wir haben bisher keine Vorkenntnisse zu solchen Konditionen«, erklärt Blumenfeld. »Es ist also nicht klar, was dieser Zustand physisch und mental bewirken kann und welche Symptome Menschen haben können, wenn sie sich über ein Jahr lang völlig ohne Tageslicht in Tunneln befinden.« Inzwischen weiß man, dass Yair Horn, der vor einer Woche freigelassen wurde, große Sehbeeinträchtigungen hat.
Nicht in Worte zu fassen
Natürlich wird auch der Gesundheitszustand der betroffenen Familien durch diese langanhaltende und beängstigende Ungewissheit sehr in Mitleidenschaft gezogen. Das Medical Team arbeitet fieberhaft an Plänen zur physischen und mentalen Rehabilitation der Geiseln und jener, die ihnen nahestehen.
Manche der Freigelassenen haben kein Zuhause und keine Familien mehr, zu denen sie zurückkehren können. »Einige der Familien, die so lange für ihre Lieben gekämpft haben, werden sehr traurige Nachricht bekommen, und es wird für sie keinen Schlussstrich geben, keine Überreste, die sie begraben können, kein Grab. Und damit kann auch kein richtiger Heilungsprozess beginnen«, sagt der Arzt, der selbst recht mitgenommen aussieht. »Und auch für diejenigen, die zurückkehren konnten, wird es sehr lange dauern, bis sie wirklich verstehen werden, dass sie in Sicherheit sind.«
Sie müssen erst nach und nach lernen, was in diesen beinahe eineinhalb Jahren in Israel vorgegangen ist, wer von ihrer Familie und von ihren Freunden umgekommen und wer am Leben ist. Von der letzten größeren Freilassungsaktion Ende November 2023 hat man gelernt, dass die Überlebenden Zeit brauchen, bis sie alles aufnehmen und verarbeiten können. Und laut Blumenfeld ist der Gesundheitszustand der Geiseln jetzt um vieles schlechter.
Zynisch spielen die Peiniger weiterhin mit den Ängsten und Hoffnungen ihrer Beute. So hat Eli Sharabi bei der von der Hamas hämisch und grausam inszenierten Zeremonie vor seiner Übergabe seine Freude darüber ausgesprochen, seine Frau und seine beiden Töchter wiederzusehen, nicht wissend, dass diese am 7. Oktober 2023 ermordet wurden. Mit ihm gemeinsam kam Yair Horn zurück, der seinen jüngeren Bruder Eithan in der Gefangenschaft zurücklassen musste. Was sie alle – und insbesondere Yarden, der Vater der Bibas-Kinder –, in diesen unbeschreiblichen Tagen fühlen, ist wohl nicht in Worte zu fassen.