Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman wählte zur allgemeinen Überraschung Scheich Mohammed al-Issa als Redner für die wichtigste Predigt der muslimischen Pilgerfahrt nach Mekka aus.
Der saudische Geistliche Mohammed bin Abdul Karim Al-Issa setzt sich seit vielen Jahren für eine Verständigung zwischen Juden und Muslimen ein. Als Vorsitzender der Muslim World League tritt er vehement gegen Antisemitismus auf, lud immer wieder Rabbiner nach Saudi-Arabien ein und besuchte mehrmals die Yeshiva University in New York, unter anderem im vergangenen Jahr, als er an einem Symposium mit dem Titel »Juden und Muslime: Ein Blick in die Zukunft» teilnahm und dem Publikum gegenüber äußerte:
»Wir mögen Unterschiede haben, aber wir müssen einander lieben und zusammenkommen.«
Besuch in Auschwitz
Als einer von nur wenigen hochrangigen Vertretern der islamischen Religionsgemeinschaft besuchte Al-Issa im Januar 2020 mit einer muslimischen Delegation gemeinsam mit dem CEO des American Jewish Committee, David Harris, das NS-Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in Polen, wo er sich während seines Besuchs beeindruckt zeigte:
»Hier unter den Kindern von Holocaust-Überlebenden und Mitgliedern der jüdischen und islamischen Gemeinschaft zu sein, ist sowohl eine heilige Pflicht als auch eine große Ehre.«
Die Vernichtung der Juden während der nationalsozialistischen Herrschaft bezeichnete er als »gewissenlose Verbrechen, die wir heute bezeugen, die wirklich Verbrechen gegen die Menschlichkeit [sind]. Das heißt, eine Verletzung von uns allen, ein Affront gegen alle Kinder Gottes.«
Aufruf zur Versöhnung
Bei seiner während der Hadsch gehaltenen Freitagspredigt in der Nimrah-Moschee, die auf dem Berg Arafat nahe Mekka liegt, erinnerte Al-Issa an die fünf Säulen des Islams und die Verpflichtung zu Akzeptanz, Harmonie und Mitgefühl.
Wie die Saudi Gazette berichtete, betonte Al-Issa, die Lehren des Islams seien streng humanitärer Natur, »deren Standards nicht kompromittiert und deren Grundlagen nicht verändert werden«. Weiter führte der Geistliche aus, dass es »zu den vom Islam gelehrten Werten gehört, alles zu vermeiden, was zu Dissens, Feindseligkeit oder Spaltung führt und stattdessen sicherzustellen, dass unsere Interaktionen von Harmonie und Mitgefühl dominiert werden«.
Politischer Hintergrund
Dass der faktische Herrscher von Saudi-Arabien, Kronprinz Mohammed bin Salman, ausgerechnet diesem Gelehrten die Ehre zukommen ließ, die wichtigste Predigt im Rahmen der jährlichen Hadsch zu halten, interpretieren Beobachter als ein demonstratives Zeichen von Salmans Bemühungen, die Beziehungen zum Staat Israel zu normalisieren und zu vertiefen.
Ehud Ya’ari, Analyst für arabische Angelegenheiten des israelischen TV-Senders Channel 12, wertete Salmans Entscheidung als »bedeutendes Signal« in Richtung Israel. Doch auch der kurz drauf stattfindende Besuch des amerikanischen Präsidenten Joe Biden in Israel und Saudi-Arabien wird bei den Überlegungen des Kronprinzen eine Rolle gespielt haben. Vor seiner Abreise aus den USA betonte Biden vor Journalisten, eines der Ziele seiner Reise bestehe darin, »Israels Integration in der Region zu vertiefen«.