Ein neuer Sammelband verharmlost den zeitgenössischen Antisemitismus und macht sich auf die Suche nach einer Lobby, die die Meinungsfreiheit untergrabe.
Philipp Lenhard
Der Vorwurf des Antisemitismus kann, wie jede Anschuldigung, als politisches Mittel missbraucht werden. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Behauptung, Juden würden immerzu die „Auschwitzkeule“ (Martin Walser) schwingen, um ihre finsteren Interessen durchzusetzen und das friedliche Zusammenleben zu stören, bereits Bestandteil des antisemitischen Syndroms ist.
Die Warnungen vor einer angeblich übermächtigen „Holocaust-Industrie“ oder einer „Israel-Lobby“ sind im politischen Diskurs seit langem allgegenwärtig. Wenn nun eine Gruppe von Wissenschaftlern und Journalisten unter der Federführung des Historikers Wolfgang Benz in einem bereits jetzt vom Feuilleton gefeierten neuen Sammelband mit dem Titel „Streitfall Antisemitismus“ darangeht, nicht die grassierende Judenfeindschaft, sondern den Antisemitismusvorwurf zum eigentlichen Problem zu erklären, ist somit zumindest Vorsicht geboten.
Kein Antisemitismus, nirgends …
Schon das Vorwort gibt den Ton vor: Die „nörgelnden Kritiker“ des Antisemitismus seien „kleingeistig“ und strotzten vor „Eifer“ und „Impertinenz“. Mit geradezu fanatischer Leidenschaft stürzten sich ungenannte „Aktivisten“ auf das „Aufspüren, Brandmarken, Verfolgen und Unschädlichmachen von Antisemitismus und Antisemiten“.
Fast gewinnt man den Eindruck, als würden in Deutschland tagtäglich Antisemiten hingerichtet, dabei sind es doch umgekehrt die Judenfeinde, die aufspüren, brandmarken, verfolgen und – das ideologische Wort „unschädlichmachen“ sollte man nicht reproduzieren – morden.
Bei so viel Schaum vor dem Mund nimmt es nicht wunder, dass der real existierende Antisemitismus – wenn er nicht gerade von Neonazis mit Hitlergruß und Hakenkreuzfahne ausgeübt wird – in dem Band systematisch bagatellisiert wird.
Der „israelbezogene Antisemitismus“, heißt es, sei lediglich ein „Nebenschauplatz der Judenfeindschaft“, die Organisation BDS sei folglich „ihrer Intention nach nicht judenfeindlich“ und bedrohe auch das Existenzrecht Israels nicht. Ein Autor erklärt mit reichlich argumentativem Aufwand eine israelfeindliche Hetzkarikatur für unbedenklich (Zitat: „Netanjahu besitzt nun einmal eine große Nase und abstehende Ohren“) und eine Autorin beklagt allen Ernstes, dass „selbst Schüler, die auf dem Schulhof ihre Mitschüler mit ‚Du Jude‘ beschimpfen, als Antisemiten tituliert werden“.
Wie, fragt man sich, soll denn ein solches Verhalten sonst bezeichnet werden? „Das Schimpfwort ‚Du Jude‘ kann, muss aber keine antisemitische Konnotation haben“, lässt uns die Autorin wissen. Das wird jüdische Schüler, die auf dem Schulhof angefeindet werden, sicher beruhigen.
… aber überall Antisemitismusvorwürfe
Fragt sich nur noch, wer aus Sicht der Autoren die Schuld daran trägt, dass der Begriff Antisemitismus nur noch dazu diene, „ohne Differenzierung mundtot zu machen“ – also den armen Deutschen Sprechverbote aufzuerlegen.
Die große Verschwörung, die mal als „Kampagne“, mal als „politisch angetriebener denunziatorischer Aktionismus“ bezeichnet wird, hat angeblich mächtige Drahtzieher, die so großen Einfluss hätten, dass sie von der Boulevardpresse bis hin zum „Bollwerk des liberalen Journalismus“ namens Süddeutsche Zeitung alles in die Knie zwingen, große TV-Anstalten wie den WDR und Arte unter Druck setzen und sogar den deutschen Bundestag auf ihre Seite ziehen könnten.
Eine jüdische Weltverschwörung halluzinieren die Autoren zwar nicht herbei – dazu ist man zu aufgeklärt und gebildet –, aber so ganz ohne die Imagination ‚jüdischen Einflusses‘ kommen sie dann doch nicht aus.
Auf der einen Seite ständen „die israelische Regierung und deren Anhänger und viele konservative Juden“, auf der anderen „liberale und linke Juden“ wie Noam Chomsky, Judith Butler und Alfred Grosser, die das sagen, was deutsche Antisemitismusvorwurfsforscher von ihnen hören wollen.
Auf die böse Seite gehört, so belehrt uns einer der Autoren, selbstverständlich auch der Zentralrat der Juden in Deutschland, dessen Präsident Josef Schuster sich nicht etwa ‚äußert‘ oder ‚zu Wort meldet ‘, sondern „poltert“, und sein „Zentralorgan“, die Jüdische Allgemeine.
Da ist es immerhin beruhigend, wenn die Autoren des Bandes auf zwei „Honoratioren aus Israel“ – gemeint sind der frühere israelische Botschafter Shimon Stein und der Historiker Moshe Zimmermann – zurückgreifen können, deren Unbehagen die mutigen deutschen Ehrenmänner nur zu gerne ausschlachten: „Israel habe nicht zu entscheiden, was jüdisch sei“, heißt es da, als ob dies irgendwer behaupten würde.
Dem Zentralrat der Juden in Deutschland wird bescheinigt, „der offiziellen Stimme Israels hörig“ zu sein und „als deren Lautsprecher zu agieren“. Sie hätten auch gleich schreiben können, die Juden in Deutschland bildeten eine Nation in der Nation, aber ganz so offen formuliert man noch nicht, denn man hat Angst vor staatlicher Repression und den bösen Medien: „Politik und Medien in Deutschland würden sich“, empören die Autoren sich, von Israel und seinem Lautsprecher, dem Zentralrat, „leider einschüchtern lassen.“
Da ist es nur gut, dass es noch aufrechte Wissenschaftler wie Wolfang Benz gibt, die sich von niemandem etwas vorschreiben lassen. Denn wie sich Juden zu verhalten haben und was Antisemitismus ist – das bestimmen immer noch deutsche Intellektuelle.