In einem neuen Buch spielen Wolfgang Benz und seine Autoren antisemitische Vorfälle herunter, nun hat der frühere Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung gemeinsam mit anderen auch noch einen offenen Brief an Angela Merkel gerichtet. Tenor des Schreibens: Kritik an der israelischen Regierung werde mit deren Hilfe in Deutschland unterdrückt, es herrsche ein Klima von Angst und Einschüchterung, selbst bei der Justiz. Doch das stimmt nicht – und mehr noch: Es ist eine Selbstviktimisierung zur Legitimierung eines publizistischen Angriffs.
Die wochenlange Debatte über den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe und seine antiisraelischen Positionen ist nahtlos übergegangen in eine generelle Diskussion über „Antisemitismusvorwürfe“.
Der Tenor der Beiträge von jenen, die Partei für Mbembe ergriffen hatten – und in der Debatte tonangebend sind –, lautet dabei: Der Antisemitismusbegriff werde vor allem durch den Einbezug der „Israelkritik“ zu weit gefasst, dadurch werde vom „eigentlichen“ und „tatsächlichen“ Antisemitismus – dem der Rechtsextremen nämlich – abgelenkt und eine Kritik an der israelischen Regierungspolitik unter Generalverdacht gestellt, mit dem Ziel, sie zu unterdrücken. Das bedrohe die Meinungsfreiheit, sorge für ein Klima der Einschüchterung und sei außerdem rufschädigend.
Manche – etwa Mbembe selbst und zuletzt die Universitätsprofessorinnen Esra Özyürek und Irit Dekel – verstiegen sich sogar zu der Behauptung, der „Antisemitismusvorwurf“ werde aus rassistischen Gründen erhoben und diene dazu, linke und marginalisierte Stimmen, besonders von Nichtdeutschen, Muslimen und People of Color, zum Verstummen zu bringen.
Felix Klein im Visier
Offen Partei für die BDS-Bewegung ergreifen zwar nur wenige, doch der Bundestagsbeschluss vom Mai 2019, diese Bewegung als antisemitisch einzustufen und ihnen staatliche Räume und Gelder zu verwehren, wurde zuletzt mehrmals als Einschränkung der freien Rede kritisiert. Immer wieder wird außerdem Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, ins Visier genommen. Ihm werfen seine Kritiker vor, maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen zu haben.
Der ehemalige Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, hat vor wenigen Tagen sogar ein von ihm herausgegebenes Buch vorgelegt, das „Streitfall Antisemitismus“ heißt und gewiss nicht zufällig gerade jetzt erschienen ist.
Der Mbembe-Debatte ist darin das letzte Kapitel gewidmet, schon dadurch wird der Anspruch deutlich, aktuell zu sein und in eine laufende Diskussion einzugreifen. In dem Sammelband geht es weniger um Antisemitismus als vielmehr um den „Antisemitismusvorwurf“, das heißt: um die Bagatellisierung antisemitischer Vorfälle – vor allem solcher, die einen Israelbezug haben – und um die Desavouierung einer Kritik des Antisemitismus, die auch seine linken, bürgerlichen und muslimischen Spielarten einschließt, als „Kampagne“ oder „politisch angetriebener denunziatorischer Aktionismus“.
Bagatellisierung von Antisemitismus, Desavouierung von Kritik
Da wird beispielsweise der Angriff, den ein junger Syrer in Berlin mit einem Gürtel auf einen Kippaträger verübte, zu einem „jungmännertypischen Macht- und Selbstdarstellungsgebaren im politisierten Kontext des Nahost-Konflikts“ heruntergespielt und eine antisemitische Netanjahu-Karikatur unter anderem mit dem Argument beschönigt, der israelische Premierminister besitze „nun einmal eine große Nase und abstehende Ohren“.
„Das Schimpfwort ‚Du Jude‘ kann, muss aber keine antisemitische Konnotation haben“, heißt es allen Ernstes in einem weiteren Beitrag; es könne „als Provokation eingesetzt“ oder „synonym zu ‚Du Opfer‘ verwendet“ werden. Auch die BDS-Bewegung sei nicht antisemitisch, sondern wolle lediglich „ohne Gewalt mit ökonomischen Mitteln eine Änderung der israelischen Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten herbeiführen“. Und so weiter, und so fort.
Wolfgang Benz hat es aber nicht bei diesem Buch belassen, sondern nun gemeinsam mit rund 60 weiteren „besorgten deutschen und israelischen Bürgerinnen und Bürgern“ – darunter diversen Autorinnen und Autoren seines neuen Buches – einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel gerichtet.
„Unsere Sorge“, heißt es darin gleich zu Beginn, „gilt der drohenden Annexion palästinensischer Gebiete durch Israel sowie dem inflationären, sachlich unbegründeten und gesetzlich unfundierten Gebrauch des Antisemitismus-Begriffs, der auf die Unterdrückung legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik zielt“.
Das heißt so viel wie: Die Regierungschefin möge doch bitte – am besten gesetzlich fundiert – dafür Sorge tragen, dass wir unser Menschenrecht auf „Israelkritik“ nach Herzenslust ausleben können, ohne dass jemand das antisemitisch nennen darf.
Und weiter: „Unsere Sorge ist besonders groß da, wo diese Tendenz mit politischer und finanzieller Unterstützung des Antisemitismusbeauftragten gefördert wird.“ Denn „solche Aktivitäten“ könnten ein „menschenverachtendes Ausmaß“ haben.
Was soll Felix Klein jetzt wieder getan haben, dass ihm gleich derart großkalibrig zuleibe gerückt werden muss? Nun, es ist „die Förderung der Publikation ‚Der neu-deutsche Antisemit‘ von Arye Sharuz Shalicar“, seines Zeichens israelisch-persisch-deutscher Politikwissenschaftler und Publizist sowie seit 2017 Abteilungsleiter der israelischen Regierung im Bereich internationale Beziehungen. In dessen Buch, klagen Benz und die anderen Besorgten, werde „der Historiker und Publizist Dr. Reiner Bernstein als Antisemit geschmäht“.
Felix Klein als Handlanger israelischer „Rechtspopulisten“?
Bernstein war gegen Shalicars diesbezügliche Bewertung gerichtlich vorgegangen, verlor den Prozess jedoch. Das war eine Überraschung, denn in der jüngeren Vergangenheit haben die Gerichte, wie Alexander Nabert in der Jungle World gezeigt hat, in ähnlich gelagerten Fällen oft genug anders entschieden.
Benz müsste das wissen, schließlich ist er Antisemitismusforscher. Gleichwohl behauptet er gemeinsam mit den anderen Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern des offenen Briefes, „die missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs“ schaffe „zunehmend auch in Deutschland eine Stimmung der Brandmarkung, Einschüchterung und Angst“. Und „in dieser Atmosphäre“ verwundere es nicht, „dass das Berliner Kammergericht Bernsteins Klage gegen seine Verleumdung zurückgewiesen hat“.
Die Justiz, ein Opfer der vermeintlichen pro-israelischen Hegemonie im postnazistischen Deutschland? Das ist ein hanebüchener Befund.
Woran aber liegt es nach Ansicht der Briefschreiber, dass ein „sorgfältig differenzierender Historiker“ wie Bernstein, dessen „Engagement“ in seiner „historischen Verantwortung als Deutscher“ gründe – für den also ausgerechnet die Kritik des jüdischen Staates eine Konsequenz aus der Shoa ist –, „auf diese Weise verunglimpft wird“? An der „zunehmend auch in Deutschland wirksamen Strategie der israelischen Regierung, jegliche Kritik der völkerrechtswidrigen Besatzungs- und Siedlungspolitik als antiisraelisch und antisemitisch zu brandmarken“, glauben sie.
Und wer sorgt dafür, dass diese „Strategie“ wirksam wird? Zuvorderst der „Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus“, also Felix Klein, der „mit der Unterstützung rechtspopulistischer israelischer Stimmen“ die Aufmerksamkeit „von realen antisemitischen Gesinnungen und Ausschreitungen“ ablenke, „die jüdisches Leben in Deutschland tatsächlich gefährden“.
Arye Sharuz Shalicar – ein Sohn iranischer Juden, die in den 1970er Jahren vor dem Antisemitismus im Iran nach Deutschland flohen – ist in den Augen von Benz und seinen Mitstreitern offenbar ein solcher „Rechtspopulist“, der als Agent von Netanjahu wirkt und in dieser Funktion zu einer „Stimmung der Brandmarkung, Einschüchterung und Angst“ beiträgt.
Von der Selbstviktimisierung zum Angriff
So ein bisschen klingt das nach einer Verschwörungstheorie, nach Jakob Augsteins schändlicher Behauptung „Wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen“, und es ist zudem grotesk, ausgerechnet Shalicar – der allzu oft am eigenen Leib erfahren muss, was Antisemitismus ist – vorzuwerfen, im Verbund mit Felix Klein „von realen antisemitischen Gesinnungen und Ausschreitungen“ ablenken zu wollen.
Aber das kommt davon, wenn man den „realen“ Hass gegen Juden fast ausschließlich ganz rechts verortet und den „Israelkritikern“ einen Persilschein ausstellt, weil man selbst zu ihnen gehört.
Anders, als es Benz und Gleichgesinnte glauben machen wollen, sind die „Israelkritiker“ keineswegs in der Defensive, weder in den Medien noch in der Politik. Erst vor wenigen Tagen beispielsweise hat der Deutsche Bundestag ohne Gegenstimme eine Resolution verabschiedet, in der die – noch gar nicht erfolgte – „Annexion von Teilen des Westjordanlandes“ und der „weitere Ausbau der Siedlungen“ verurteilt wird.
Auch medial steht die „Israelkritik“ nach wie vor hoch im Kurs. Bei der Behauptung, in Deutschland gebe es ein Klima der Angst vor „Antisemitismusvorwürfen“, handelt es sich deshalb vielmehr um „die immergleiche Strategie der Selbstviktimisierung, um von da aus zum Angriff übergehen zu können“, wie Tom Uhlig, Mitarbeiter der Bildungsstätte Anne Frank, treffend festgehalten hat.
Dieser Angriff gilt derzeit vor allem Felix Klein, obwohl – besser gesagt: gerade weil – er es als Teil seines Jobs versteht, den Antisemitismus in allen seinen Formen zu thematisieren und zu bekämpfen.
Wer die ruhigen und differenzierten Texte von und Interviews mit Klein liest, muss außerdem schon ein gerüttelt Maß an Verbohrtheit aufbringen, um ihn der Unterstützung des Rechtspopulismus, der Ablenkung vom „echten“ Antisemitismus und der Förderung einer Atmosphäre der Angst und Einschüchterung zu zeihen. Das Problem in Deutschland heißt immer noch Antisemitismus – und nicht „Antisemitismusvorwurf“.
Update (29. Juli 2020): Via Facebook betont der stellvertretende Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Uffa Jensen, dass das Buch von Benz „keine Veröffentlichung des ZfA“ ist, und fügt hinzu: „Wir teilen viele der strittigen Aussagen nicht.“