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WOCHENBERICHT, 27.5. BIS 2.6.2013

I. Allgemeiner Überblick, Fortsetzung der Iran-Werbekampagne

In der vergangenen Woche erschienen in den von MENA systematisch ausgewerteten österreichischen Tageszeitungen insgesamt 354 Beiträge mit Nahost- bzw. Nordafrika-Bezügen, eine deutliche Steigerung im Vergleich zu den 251 diesbezüglichen Artikeln in der Woche zuvor:

WOCHENBERICHT, 27.5. BIS 2.6.2013

Folgende Länder standen dabei im Mittelpunkt des medialen Interesses:

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Die Berichterstattung in den insgesamt 142 relevanten Beiträgen (zuletzt: 60) der wichtigsten ORF-Fernseh- und Radionachrichtensendungen konzentrierte sich auf folgende Staaten:

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Das die Berichterstattung dominierende Thema waren wieder die aktuellen Vorgänge im syrischen Bürgerkrieg. Gegen Ende der Woche rückte schließlich die Türkei ins Rampenlicht, wo nach umstrittenen Gesetzesbeschlüssen zur Einschränkung des Alkoholkonsums nun der Protest gegen ein nicht minder umstrittenes Bauprojekt im Herzen Istanbuls zum Auslöser mehrtägiger Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei wurde – und die Regierung von Premier Erdogan gehörig unter Druck brachte.

II. Reiseberichte und religiöse Verfolgung

Bevor wir uns diesen Entwicklungen in der Türkei widmen, wollen wir im Anschluss an unseren Wochenbericht von vor vierzehn Tagen aber zuerst darauf hinweisen, dass die Iran-Werbekampagne der Tourismusindustrie offenbar noch nicht zu Ende ist.

Nachdem in der letzten Zeit schon die Kronen Zeitung (12. Mai 2013), die Salzburger Nachrichten (18. Mai 2013) und die Kleine Zeitung (19. Mai 2013) ganz euphorisch über die Schönheit des Iran ins Schwärmen gerieten, war dieses Mal die FreitagsbeilageSchaufenster der Presse an der Reihe: „Pretty in Teheran“ lautete der Titel des mehrseitigen Jubelartikels, in dem Ulrike Weiser darlegte, warum das Land „ziemlich großartig“ sei. Inhaltlich unterschied er sich nicht wesentlich von den vorangegangenen nicht gekennzeichneten Werbebeiträgen – sogar der stets selbe Religionsgelehrte aus Isfahan hatte wieder seinen Auftritt. Die Ansprache von Ajatollah Seyed Mahdi Hor sei weniger ein Vortrag als „eher ein Missionierungsversuch“ gewesen. „Doch gibt es durchaus auch andere Religionen im Iran – Isfahan hat ein armenisches Viertel mit einer alten Kirche.“ (Presse, 31. Mai 2013)

An dieser Stelle überschritt Weisers Beitrag freilich die Grenze zwischen einem vermeintlich unpolitischen Reisebericht und einem Artikel, in dem die traurige Realität der islamistischen Diktatur übertüncht wird: Schönheit des Landes hin, armenische Kirche her – was anderes als eine Weißwaschung des Regimes ist es, wenn harmlos hervorgehoben wird, es gebe im Iran „durchaus auch andere Religionen“, ohne dabei zu erwähnen, dass diese diskriminiert oder – wie der Bahai-Glaube – systematisch verfolgt werden? Vor kurzem war darüber im Standard zu lesen: „Angehörige der Bahaí-Gemeinde … werden seit der Islamischen Revolution 1979 systematisch unterdrückt und verfolgt. Versammlungen sind ihnen ebenso verboten, wie der Besuch einer iranischen Universität. Fast wöchentlich werden Bahaís unter fadenscheinigen Gründen festgenommen, in Menschenrechtsberichten ist die Rede von Folter und Hinrichtungen.“ (Standard, 15. Mai 2013) Davon war natürlich in keinem der Jubelbeiträge in KroneKleiner ZeitungSalzburger Nachrichten oder Presse die Rede – ein Besuch bei jenen sieben führenden Mitgliedern der Bahaí-Gemeinde, die vor geraumer Zeit ins Gefängnis geworfen und unlängst erst wegen angeblicher Spionage für Israel zu 20 Jahren Einzelhaft verurteilt wurden, gehörte schließlich nicht zum Reiseprogramm in dieses „ziemlich großartige“ Land.

III. Islamisierung in der Türkei? „Das ist Nonsens.“

Die Türkei durchlebt gerade eine turbulente Zeit: Anfang der Woche griffen rund zwanzig Islamisten, einige davon mit Messern bewaffnet, in Ankara ein öffentliches Kiss-in an, das aus Protest gegen die „schleichende Islamisierung der Gesellschaft“ organisiert worden war. (Presse, 27. Mai 2013; Kronen Zeitung, 27. Mai 2013) Am Ort der Aktion, einer U-Bahn-Station in der türkischen Hauptstadt, war ein sich küssendes Paar zuletzt per Durchsage aufgefordert, „sich der moralischen Ordnung nach angemessen zu verhalten“. Gegen das „Massenknutschen gegen Kuss-Verbot“ mobilisierten unter anderem auch Mitglieder der Jugendorganisation der regierenden AKP. Obwohl die Polizei Konfrontationen zu vermeiden versuchte, attackierten die „selbst ernannten Sittenwächter“ unter „Allahu akbar“-Rufen die Küssenden. (Salzburger Nachrichten, 28. Mai 2013)

Kurz danach sorgte die Nachricht für Schlagzeilen, dass das türkische Parlament im Schnellverfahren ein Banngesetz gegen Alkohol verabschiedet hat. Demzufolge ist Werbung für alkoholische Getränke künftig verboten, ab zehn Uhr abends darf kein Alkohol mehr in Geschäften verkauft werden und in einem Bannkreis von 100 Metern rund um Schulen und Moscheen wird die Ausschank alkoholischer Getränke verboten. (Standard, 28. Mai 2013)

Im Kurier machte sich Walter Friedl daraufhin Sorgen darüber, dass Erdogan mit dem Anti-Alkohol-Gesetz riskiere, „ins islamistische Eck gestellt zu werden“. Gegner der AKP wollten immer schon gewusst haben, dass Erdogans Ziel eine „Islamisierung der Türkei“ sei. Friedl weiß es besser: „Das ist Nonsens“, meint er kurz und knapp. Die AKP sei eine „konservativ ausgerichtete Partei mit einer religiösen Basis und einer stark wirtschaftsliberalen Komponente“, die kein islamistisches System wie im Iran oder in Saudi-Arabien errichten wolle. Das wäre auch gar nicht möglich: „Junge Frauen werden sich ihre Miniröcke und High Heels nie mehr nehmen lassen, Burschen nicht ihr Efes-Bier und den Raki.“ (Kurier, 31. Mai 2013)

Die Sicherheit Friedls, dass die Rede von einer Islamisierung der Türkei nichts als „Nonsens“ sei, beruht auf einem einfachen Trick: Nur weil die Türkei mit Sicherheit nicht die Form eines schiitischen Gottesstaates iranischen Musters annehmen und sich in ihr wahrscheinlich auch nie ein so rigides Regime wie das saudische etablieren wird, ist damit noch lange nicht gesagt, dass überhaupt keine Islamisierungsprozesse stattfinden. Friedl argumentiert hier wie jene, die Warnungen vor aktuellen antisemitischen Tendenzen mit dem Verweis quittieren, dass niemand Gaskammern und Vernichtungslager errichten wolle und die Warnungen daher reine Panikmache seien. „Unterhalb der historischen Markierung, die der Holocaust gesetzt hat, kann es keinen Antisemitismus geben“, brachte Henryk M. Broder diese Haltung einmal kritisch auf den Punkt. So wie aus der Sicht dieser Leute alles unterhalb des Levels der NS-Vernichtungspolitik nicht als Antisemitismus bezeichnet werden soll, will Friedl offenbar erst von der Islamisierung einer Gesellschaft sprechen, wenn sie saudische oder iranische Ausmaße angenommen hat.

Statt die Warnungen vor einer Islamisierung der Türkei kurzerhand als „Nonsens“ abzutun, hätte Friedl seine Leser darüber informieren können, warum diese Sorge überhaupt besteht und, wie dieSalzburger Nachrichten es beispielsweise getan haben (3. Juni 2013), auf einige der umstrittenen Aussagen des AKP-Chefs hinweisen. Etwa die Rede, in der er ein Gedicht zitierte, und die ihn wegen Aufhetzung des Volkes einst ins Gefängnis brachte: „Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen und die Gläubigen unsere Armeen.“ Oder das Zitat, in dem Erdogan die Demokratie mit einem Zug verglich: Man fährt darin, bis man sein Ziel erreicht hat, und steigt dann aus. Friedl hätte auch auf die weit verbreitete Kritik am zunehmend autoritär werdenden Führungsstil Erdogans hinweisen können, auf die deutliche Rückentwicklung der Türkei etwa in Sachen Pressefreiheit oder die seit der Machtübernahme der AKP stattfindende Zurückdrängung der Frauen aus dem Berufsleben (von der Aufhebung des Schleierverbots in öffentlichen Einrichtungen ganz zu schweigen) – alles Punkte, die dem Vorwurf einer angestrebten Islamisierung der Gesellschaft zumindest ein gewisses Maß an Plausibilität geben.

Ein beträchtlicher Teil der türkischen Gesellschaft sieht darin jedenfalls nicht den „Nonsens“, den Friedl ausmacht. Kaum war sein Kommentar gedruckt, kam es in Istanbul jedenfalls zu Massenprotesten gegen die Regierung und Premier Erdogan (Kronen Zeitung, 1. Juni 2013; Presse, 2. Juni 2013; Kurier, 2. Juni 2013), dem die Demonstranten explizit „islamischen Faschismus“ vorwarfen. (Ö1-Morgenjournal, 1. Juni 2013) Auslöser dieser Proteste war eines der vielen Bauprojekte, mit denen Erdogan der Stadt am Bosporus seinen Stempel aufdrücken will. In diesem Fall geht es um ein Einkaufszentrum, das wohl nicht zufälligerweise die Form einer einstmals am selben Ort befindlichen osmanischen Armeekaserne annehmen sollte. Der wurde in österreichischen Medien kaum Aufmerksamkeit geschenkt Obwohl die Symbolik dieses geplanten Gebäudes mit ein Grund für die Vehemenz der Demonstrationen gewesen sein dürfte, wurde sie in österreichischen Medien kaum erfasst. Eine Ausnahme war dieKleine Zeitung, in der die Vorsitzende der Istanbuler Architektenkammer zitiert wurde: „Erdogan will mit dem Umbau des [Gezi-]Parks und des Taksim-Platzes eine architektonische Machtdemonstration. Der Platz der Republik soll ausradiert werden.“ (Kleine Zeitung, 2. Juni 2013)

Für ihre Machtdemonstrationen greift die AKP oft und ganz bewusst auf Symbole aus der Zeit des Osmanischen Reiches zurück. Es war daher alles andere als ein Zufall, dass Premier Erdogan und Präsident Gül ausgerechnet den vergangenen Mittwoch zum Tag der Grundsteinlegung für eine neue Brücke über den Bosporus machten: Am 29. Mai wird in der Türkei alljährlich der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 gedacht, eines der größten Siege des Islam über das Christentum. Bei der Grundsteinlegung erklärte Erdogan, der Sieg der Osmanen über das christliche Byzanz habe ein „dunkles Kapitel“ der Geschichte beendet und ein „Zeitalter der Erleuchtung“ eingeläutet. Anne-Catherine Simon bemerkte dazu in der Presse: „In der EU wäre die Eröffnung einer Brücke nach Europa Symbol des Friedens, in der Türkei wird sie als Neuauflage des Siegs über die Christen gedeutet.“ (Presse, 31. Mai 2013) Bezeichnend ist auch, wie die neue Brücke heißen wird: „Yavuz Sultan Selim Brücke, benannt nach einem der schlimmsten Schlächter unter den Sultanen, der für das Reich im 16. Jahrhundert Ägypten, Mekka und Medina eroberte.“ (Kleine Zeitung, 2. Juni 2013)

Die österreichischen Medien sind sich recht einig, dass die aktuellen Proteste Erdogan zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt vor zehn Jahren in Bedrängnis bringen. Gerd Höhler etwa interpretiert die Demonstrationen als Widerstand eines Teils der Bevölkerung dagegen, von der Regierung übergangen zu werden: „Jetzt entlädt sich der aufgestaute Zorn der Menschen auf die Arroganz der Macht und auf die islamisch-konservative Regierung, die der Gesellschaft ihre religiösen Wertvorstellungen aufzwingen will“. (Kleine Zeitung, 3. Juni 2013, fast wortgleich auch in denSalzburger Nachrichten, 3. Juni 2013) Und Markus Bernath sieht den „türkischen Frühling“ gekommen: Die türkischen Bürger „wollen sich nicht länger als entmündigte Bürger fühlen“ und „revoltieren gegen den autoritär-paternalistischen Führungsstil des Premiers.“ (Standard, 3. Juni 2013)

Der hat mit seinen Reaktionen die Proteste eher noch verstärkt. Seine per Twitter verbreitete Aussage, „(w)enn die Opposition 100.000 Menschen versammelt, können wir eine Million versammeln“ (Presse, 2. Juni 2013) war der Beruhigung der Lage genauso wenig dienlich, wie seine Beschimpfung der Demonstranten als „Plünderer“ und „Provokateure“ (Standard, 3. Juni 2013), oder seine Ankündigung, nun statt einem Shoppingcenter eine Moschee bauen lassen zu wollen. (Ö1-Morgenjournal, 3. Juni; warum die Provokation, ausgerechnet eine Moschee als Ersatzobjekt bauen zu wollen, ein Zeichen von Schwäche soll, bleibt das Geheimnis des ORF-Türkeikorrespondenten Christian Schüller.) Interessant auch die Beobachtung Markus Bernaths: „Tayyip Erdogan scheint bisweilen so entrückt wie die arabischen Autokraten, deren Rücktritt er offen forderte. … Auch Zehntausende von Protestierenden sieht er als ‚marginale‘ Erscheinung.“ (Standard, 3. Juni 2013)

Wie auch immer die Entwicklung der Türkei weitergeht, die Auszeichnung für den wohl zynischsten Kommentar kann schon jetzt vergeben werden: Im syrischen Fernsehen kam Syriens Informationsminister Omran Zoabi zu Wort, der allen Ernstes meinte, die Forderungen des türkischen Volkes verdienten es nicht, von der Polizei mit so viel Gewalt beantwortet zu werden. Erdogans Unterdrückung friedlicher Proteste zeige, wie abgehoben von der Realität er agiere. Wenn Erdogan nicht in der Lage sei, einen gewaltfreien Weg zu gehen, sollte er zurücktreten – welch Verhöhnung der über 80.000 Opfer des syrischen Bürgerkrieges, der damit begann, dass das Assad-Regime mit rücksichtsloser Gewalt gegen friedliche Demonstranten vorging.

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