„Gestern ging ich vom Brandenburger Tor zur russischen Botschaft, um mich den Hunderttausenden anzuschließen, die dort gegen den russischen Angriffskrieg in Syrien demonstrieren. Allein, es war niemand da.
Vor 13 Jahren zogen friedensbewegte Massen, angeführt von der SPD, durch die Hauptstadt, um gegen den amerikanischen Krieg im Irak zu demonstrieren.
George W. Bush war die Hassfigur der Straße. Bundeskanzler Gerhard Schröder übertraf sich jeden Tag in der Schärfe seiner Worte, mit denen er auf die engsten Verbündeten eindrosch. Zwar ging es 2003 gegen einen der blutrünstigsten Diktatoren der Weltgeschichte, aber die Deutschen wussten, wo sie zu stehen hatten. Auf der Seite des Friedens. Kein Blut für Öl.
Vielleicht liegt es daran, dass sich „Kein Blut für russische Mittelmeerhäfen“ nicht so gut skandieren lässt, auf kein Spruchband und zu keinem deutschen Vorurteil passt, aber gegen Russlands Krieg geht in Deutschland heute niemand auf die Straße. (…)
Die gesamte Bundesregierung, die als Erblastträger der deutschen Geschichte in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Male den „Nie-wieder“-Schwur abgelegt hat, hat den Einsatz von Chlorgasbomben in Aleppo vor wenigen Tagen kaum kommentiert, geschweige denn gefordert, was aus gutem Grund Deutschlands Verantwortung wäre – eine kompromisslose Intervention gegen all jene, die Gas als Waffe einsetzen. (…)
Wenn es um die Vergangenheit geht, erfüllen wir diese Pflicht meisterlich mit Reden an sämtlichen Mahnmalen unserer schrecklichen Geschichte. Allerdings ist es leicht, in der Vergangenheit mutig und entschlossen zu sein. Viel schwieriger ist es in der Gegenwart – und da versagen wir kläglich.
Unsere Regierung ist weit entfernt davon, Russlands Kriegsverbrechen in Syrien klar zu benennen, zu verurteilen und zu sanktionieren. Unser Land ist weit davon entfernt, kraftvoll für das Fundament unserer Werte einzutreten.“
(Julian Reichelt, Chefredakteur von Bild.de: „Unsere Mitschuld am Morden in Syrien“)