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Wirtschaftskrise in Tunesien verschärft sich

Der Engpass bei der täglichen Versorgung und die kaum mehr leistbaren Grundnahrungsmittel führen in Tunesien erneut zu Protesten und Unruhen.

Die Tunesier wurden in den letzten Wochen mit steigenden Lebensmittelpreisen und Engpässen bei Grundnahrungsmitteln konfrontiert. Damit droht die schwelende Unzufriedenheit in dem nordafrikanischen Land, das 2011 die Wiege der Proteste des Arabischen Frühlings war, in größere Unruhen umzuschlagen.

Der tägliche Einkauf der tunesischen Bevölkerung ist geprägt von stundenlangem Warten vor den Geschäften, wobei es immer wieder zu Auseinandersetzungen und Schlägereien kommt, um auch nur einige wenige Grundnahrungsmittel zu ergattern. Lange Zeit wurden sie subventioniert, nun sind sie zunehmend rationiert. Zucker, Pflanzenöl, Reis und sogar Wasser in Flaschen sind in den Supermärkten und Lebensmittelgeschäften kaum mehr zu erhalten, und gibt es sie doch, können sie sich viele Menschen nicht leisten, weil die Preise in exorbitante Höhen geschossen sind.

Aus diesem Grund kam es landesweit bereits zu vereinzelten Protesten und sporadischen Zusammenstößen mit der Polizei. In einem Vorort von Tunis nahm sich kürzlich ein junger Obsthändler das Leben, nachdem die Polizei seine Waage beschlagnahmt hatte. Die Verzweiflungstat weckte Erinnerungen an die Selbstverbrennung eines anderen tunesischen Händlers, Mohamed Bouazizi, im Jahr 2010, die die Proteste auslöste, die zum Sturz des langjährigen Diktators Zine El Abidine Ben Ali führten und ähnliche Aufstände in der gesamten arabischen Welt auslösten: den Arabischen Frühling.

In Douar Hicher, einem verarmten Vorort am Stadtrand von Tunis, der als Barometer für die Unzufriedenheit der Bevölkerung gilt, gingen im vergangenen Monat Hunderte von Menschen auf die Straße, um die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen zu beklagen. Unter dem Ruf »Arbeit, Freiheit, Würde« – dem Leitmotiv der Revolution von 2010/2011 – blockierten die Demonstranten die Hauptverkehrsader der Stadt, zündeten Reifen an und trotzten der Polizei, die Tränengas einsetzte, um sie zu vertreiben.

Für die Misere hat die Regierung Spekulanten, Schwarzmarkthortungen und den Krieg in der Ukraine verantwortlich gemacht, Wirtschaftsexperten sagen jedoch, die Haushaltskrise der Regierung und ihre andauernde Unfähigkeit, ein Darlehen mit dem Internationalen Währungsfonds auszuhandeln, hätten Tunesiens Probleme verschlimmert.

Aber nicht nur Lebensmittel sind knapp geworden. Da Tunesien über keine Energieressourcen wie seine Nachbarländer Libyen und Algerien verfügt, ist es maßgeblich auf Importe angewiesen. Aufgrund der langanhaltenden wirtschaftlichen Probleme hat das Land jedoch nur eingeschränkte Möglichkeiten, sich die benötigten Waren auf den internationalen Märkten zu sichern.

Dem Nationalen Institut für Statistik zufolge hat die Inflation eine Rekordrate von 9,1 Prozent erreicht, die höchste seit drei Jahrzehnten. Die tunesische Zentralbank (BCT) verschärfte die Lage noch einmal, indem sie die Bankgebühren und Zinssätze erhöhte und damit den Zugang zu Verbraucherkrediten erschwerte.

Nach der Entlassung des Premierministers und der Auflösung des Parlaments hat sich Präsident Kaïs Saied im letzten Jahr weitreichende Vollmachten gesichert. Saied begründete dies damit, die Maßnahmen seien notwendig, um das Land aus der langwierigen politischen und wirtschaftlichen Krise zu retten, weswegen viele Tunesier sie begrüßten. Kritiker und westliche Verbündete erklärten jedoch, die erweiterte Machfülle von Saied gefährde die junge tunesische Demokratie. Saied selbst macht für die Lebensmittelknappheit und den Preisanstieg »Spekulanten« und diejenigen verantwortlich, »die ein Monopol auf Waren besitzen, die sie in illegalen Depots lagern«. Auch seinem politischen Hauptkonkurrenten, der islamistischen Ennahdha-Bewegung, unterstellte er, eine verschärfende Rolle in der Krise zu spielen, was die Partei jedoch entschieden zurückweist.

In einer Erklärung bezeichnete die Heilsfront, ein Zusammenschluss von fünf Oppositionsparteien und mehreren unabhängigen Gruppen, die aufkeimenden Demonstrationen als Zeichen »einer allgemeinen Explosion und des Zusammenbruchs der sozialen und politischen Ordnung«. Der Generalsekretär der mächtigen Gewerkschaft UGTT, Noureddine Taboubi, gibt dem überlasteten Staatshaushalt die Schuld an der sich verschärfenden Misere.

Die Regierung verhandelt derzeit mit dem IWF über einen Kredit in Höhe von zwei bis vier Milliarden Dollar, um das Haushaltsdefizit zu bewältigen, das durch die COVID-19-Pandemie und die Auswirkungen des russischen Kriegs noch verschärft wird. Eine hochrangige tunesische Delegation reiste am Samstag nach Washington, in der Hoffnung, eine Einigung zu erzielen.

Im Gegenzug muss sich Tunesien zu schmerzhaften Reformen verpflichten, darunter die Verkleinerung des öffentlichen Verwaltungssektors, der zu den größten der Welt gehört und ein Drittel des Staatshaushalts verschlingt. Der IWF fordert außerdem die schrittweise Aufhebung von Subventionen und die Privatisierung staatlicher Unternehmen, was mit massiven Entlassungen und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit einhergeht, die nach den jüngsten Zahlen der Weltbank bereits bei achtzehn Prozent liegt.

Angesichts dieser düsteren Aussichten setzen immer mehr Tunesier ihr Leben aufs Spiel, um auf der Suche nach einem besseren Leben nach Europa zu gelangen. Nach Angaben des Tunesischen Forums für wirtschaftliche und soziale Rechte sind im Jahr 2022 bisher 507 Migranten gestorben oder bei der Fahrt übers Mittelmeer verschollen. Laut dem Sprecher der Nationalgarde, Houssameddine Jebabli, vereitelte die Küstenwache von Januar bis September mehr als 1.500 illegale Migrationsversuche nach Italien, an denen zum Teil ganze Familien, darunter fast 2.500 Kinder, beteiligt waren.

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