Erweiterte Suche

Wird Marwan Barghouti der nächste palästinensische Präsident?

Demonstration für den verurteilten Terroristen Marwan Barghouti
Demonstration für den verurteilten Terroristen Marwan Barghouti (© Imago Images / Pacific Press Agency)

Sollte der inhaftierte Fatah-Terrorist die palästinensischen Wahlen gewinnen, würde sich Israel in einer schwierigen Situation befinden.

Ksenia Svetlova

Das erste, das man sieht, wenn man den Qalandiya-Kontrollpunkt von Jerusalem auf dem Weg nach Ramallah passiert, ist ein riesiges Wandgemälde von Marwan Barghouti, dem inhaftierten Fatah-Führer, der von vielen Palästinensern als Nachfolger von Mahmud Abbas angesehen wird. Neben Barghoutis Porträt steht das des verstorbenen Jassir Arafat. Stellt man diese beiden Persönlichkeiten nebeneinander, gibt es eine offensichtliche Verbindung: Beide werden für ihren Kampf gegen Israel verehrt.

Laut einer im September durchgeführten Umfrage zur öffentlichen Meinung in Palästina würde Barghouti, sollte Mahmoud Abbas bei Präsidentschaftswahlen für die Palästinensische Autonomiebehörde nicht kandidieren, 41 Prozent der Stimmen erhalten, der internationale Hamas-Führer Ismail Haniyeh 17 Prozent, der Ex-Fatah-Führer Mohammed Dahlan fünf Prozent, der Hamas-Führer im Gazastreifen Yahya Sinwar vier Prozent und der Abbas-Vertraute Hussein al-Sheikh zwei Prozent.

Wann die Präsidentschaftswahlen für die Palästinensische Autonomiebehörde stattfinden werden, ist im Moment unklar. Abbas, der 2005 ins Amt gewählt wurde, hat die für ursprünglich Mai 2021 geplante Abstimmung auf unbestimmte Zeit verschoben. Dies ist jedoch nicht das einzige Hindernis für Barghouti.

Mehrfacher Attentäter

Marwan Barghouti, einst ein energischer Studentenführer aus dem Dorf Kobar im Westjordanland, stieg über die Jahre zu einem führenden Mitglied des militärischen Flügels der Fatah auf und wurde vor zwanzig Jahren in Ramallah von den israelischen Verteidigungskräften verhaftet. Er wurde vor einem israelischen Zivilgericht wegen fünffachen Mordes angeklagt und, im Gegensatz zu den meisten Palästinensern, die vor israelische Militärgerichte gestellt werden, auch dafür verurteilt.

Barghouti wurde für schuldig befunden, die Ermordung eines griechisch-orthodoxen Mönchs, einen Schusswaffenangriff in der Nähe der Siedlung Givat Ze’ev, bei der ein israelischer Zivilist getötet worden war, und die Terrorattacke auf das Restaurant Seafood Market in Tel Aviv im Jahr 2002, bei dem drei Zivilisten getötet worden waren, genehmigt und organisiert zu haben. Aus israelischen Sicherheitskreisen wurde verlautet, dass unter den Dokumenten, die die Israelischen Verteidigungsskräfte (IDF) bei Razzien in den Büros der Tanzim, dem militärischen Zweig der Fatah, in Ramallah fanden, auch Notizen waren, die Barghoutis direkte Beteiligung an der Planung von Terroranschlägen belegen.

Barghouti behauptete, er unterstütze den bewaffneten Widerstand gegen die israelische Besatzung, verurteile jedoch Angriffe auf Zivilisten innerhalb der Grünen Linie von 1967. Bei seiner Verhandlung weigerte er sich, die Legitimität des Gerichts anzuerkennen und verzichtete auf sein Recht, sich selbst zu verteidigen. Die Frage seiner Freilassung wurde in Israel und im Westjordanland unmittelbar nach dem Prozess ausgiebig diskutiert. Doch im Jahr 2006 sagte der Knessetabgeordnete Avi Dichter, der als Direktor des israelischen Sicherheitsdienstes Shin Bet gedient hatte, in einem Fernsehinterview sarkastisch, dass »Barghouti sicherlich mit einer früheren Freilassung rechnen kann – nach etwa hundert Jahren oder so«. Heute scheint seine Freilassung nicht wahrscheinlicher zu sein als vor sechzehn Jahren.

Weiterhin politisch aktiv

Während der ersten Jahren seiner Inhaftierung blieb Barghouti politisch aktiv. Er handelte einen einseitigen Waffenstillstand aus, den die wichtigsten palästinensischen Gruppierungen im Juni 2003, während der »Zweiten Intifada«, erklärten. Im Jahr 2006 verfasste er das sogenannte Gefangenendokument (in diesem Dokument forderten alle inhaftierten palästinensischen Führer aller Fraktionen die Gründung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von vor 1967 und verlangten das Rückkehrrecht für Flüchtlinge). Im Jahr 2007 war Barghouti an der Ausarbeitung des Mekka-Abkommens beteiligt, das die Spaltung zwischen Fatah und Hamas überwinden sollte.

In den letzten Jahren hat sich Barghouti jedoch nur noch selten zu den aktuellen Fragen geäußert, die die Palästinenser beschäftigen. Häufig betont er in allgemeinen Worten die Bedeutung der nationalen Versöhnung und forderte erst kürzlich die Festlegung von Terminen für Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. »Da seit (fast) zwanzig Jahren keine Wahlen stattgefunden haben, leben die Palästinenser in einem gefährlichen politischen Vakuum«, erklärte er in einem Brief an seine Frau Fadwa. Dabei verlor er jedoch kein Wort über die Korruption oder die Verletzung der Bürgerrechte in der Palästinensischen Autonomiebehörde oder über die Zukunft einer Zwei-Staaten-Lösung und andere Themen.

Obwohl Barghouti für viele Palästinenser, einschließlich der Jugend, zweifellos eine starke Symbolfigur des Widerstands ist, ist unklar, wie der inhaftierte Führer die palästinensische Innenpolitik leiten würde. Quellen in Ramallah sagen, der in Israel inhaftierte Terrorist genieße zwar die Sympathie der Straße, spreche aber weder aktiv noch klar genug über seine Ziele, Ideologie oder Agenda. Auch seine Beziehungen zur Fatah-Partei und der Grad seiner Unterstützung in dieser Partei sind unklar.

Zweifel in den eigenen Reihen

Laut hochrangigen Analysten und Parteifreunden, die es vorziehen, anonym zu bleiben, »wussten wir zwar vor Jahren, wer Barghouti ist. Über seine Ideologie heute aber ist wenig bekannt. Er war ein beliebter Studentenführer und Helfer von Arafat. Aber ist er bereit für die schwere Last der Verantwortung als Präsident? Wird er in der Lage sein, die Reihen der Fatah zu vereinen? Oder wird er diese Gelegenheit nur nutzen, um seine Freilassung aus dem Gefängnis zu verhandeln?«

Während der Vorbereitungen für die Parlamentswahlen im vergangenen Jahr beschloss Barghouti, auf einer unabhängigen Liste gemeinsam mit seiner Frau Fadwa und dem Neffen von Jassir Arafat, Nasser al-Qidwa, zu kandidieren. Im Laufe der Jahre säuberte Abbas die Führung sowohl der Palästinensischen Befreiungsorganisation als auch der Palästinensischen Autonomiebehörde erfolgreich von Barghouti-Sympathisanten. Neben Barghouti gibt es in der Fatah noch weitere Anwärter für die Nachfolge von Abbas, darunter Jibril Rajoub, Hussein al-Sheikh und wahrscheinlich auch Muhammad Dahlan, der inzwischen in den Vereinigten Arabischen Emiraten lebt. Einige palästinensische Analysten sagten letztes Jahr voraus, die Parlamentswahlen würden zu einem weiteren Sieg der Hamas auf Kosten der Fatah führen.

Aus israelischer Sicht wäre ein Sieg Barghoutis bei künftigen palästinensischen Wahlen aus mehreren Gründen gefährlich. Da es derzeit kein Szenario für seine Freilassung gibt, müsste im Falle einer Wahl Barghoutis zum PA-Präsidenten jemand anderer in seinem Namen regieren. Die Gefahr von Chaos und Anarchie würde zunehmen und die Legitimität der Palästinensischen Autonomiebehörde weiter sinken, was der Hamas zugute käme.

Gleichzeitig würde der internationale Druck auf Israel wachsen, das sich sich in den Schuhen des südafrikanischen Regimes wiederfinden könnte, das Nelson Mandela ins Gefängnis brachte. Interessanterweise ziehen die palästinensischen Medien diesen Vergleich zwischen den beiden Männern nur selten, während die internationale und israelische Presse ihn häufig benutzt.

Kurz gesagt, Israel würde sich in einer unhaltbaren Situation wiederfinden. Auch die Palästinenser wären mit der schwierigen Realität konfrontiert, ein Symbol des Widerstands anstelle eines Politikers zum Führer zu haben, der in der Lage ist, zu regieren, zu verhandeln und Abkommen zu schließen. Kombiniert man diese chaotische Situation mit der sich abzeichnenden rechtsextremen israelischen Regierung, entsteht ein perfekter Sturm. Tatsächlich könnte ein solcher Israel und die Palästinensische Autonomiebehörde schmerzhaft treffen, wenn Abbas die Szenerie verlässt und der Kampf um seine Nachfolge offiziell beginnt.

Ksenia Svetlova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politik und Strategie der Reichman-Universität (IDC Herzliya) und Leiterin des Programms für die Beziehungen zwischen Israel und dem Nahen Osten am Mitvim-Institut. Svetlova ist ehemaliges Mitglied der Knesset. (Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News SyndicateÜbersetzung von Alexander Gruber.)

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren sowie ein Editorial des Herausgebers.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir sprechen Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie einen unabhängigen Blickzu den Geschehnissen im Nahen Osten.
Bonus: Wöchentliches Editorial unseres Herausgebers!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!