Die italienischen Behörden beschlagnahmten kürzlich 84 Millionen (14 Tonnen) Captagon-Tabletten. Als Hersteller wurde ursprünglich der Islamische Staat benannt, woran Recherchen jedoch zweifeln lassen.
Christoph Reuter, Der Spiegel
Nur was die vermutlich auch nicht gänzlich unbekannten Absender der immerhin weltgrößten je beschlagnahmten Menge der Aufputschmittel betraf, wurde es seltsam: „Hergestellt in Syrien von ISIS zur Terrorfinanzierung“ titelten die Fahnder in ihrer Pressemitteilung, die weltweit viral ging. Der legendäre, im März vergangenen Jahres in seiner letzten Hochburg besiegte „Islamische Staat“ (IS) stecke dahinter! Die beschlagnahmten Captagon-Pillen trügen dasselbe Logo aus zwei Halbmonden, wie es auch bei Tabletten im Besitz von IS-Kämpfern aufgetaucht sei. Captagon sei bekannt als die „Dschihadisten-Droge“. (…)
In Italien fragte nur der Nahost-Reporter Daniele Raineri der kleinen Tageszeitung Il Foglio im Editorial: „Was haben sich die italienischen Behörden dabei gedacht?“, den IS als Drogenkartell zu präsentieren. Denn tatsächlich ist der IS für so ziemlich jede Untat zu haben. Die Herstellung synthetischer Drogen im industriellen Maßstab gehört allerdings nicht dazu. Die letzten versprengten IS-Kämpfer sitzen in der syrisch-irakischen Wüste, im Untergrund, fernab der Städte und erst recht jedes Seehafens. (…)
Im April stießen ägyptische Zöllner auf vier Tonnen Haschisch, ebenfalls aus Latakia, verpackt in Milch-Tetrapaks einer Firma des Cousins von Syriens Diktator Baschar al-Assad, Rami Machluf. Im selben Monat schließlich fanden saudi-arabische Beamte in zwei Ladungen insgesamt 44,7 Millionen Captagon-Pillen, (…) Auch hier beklagte die nominelle Herstellerfirma Yabour, eng verbunden mit Präsidentenbruder und Militärkommandeur Maher al-Assad, den Missbrauch ihrer Verpackungen.
Immer dasselbe Captagon, immer dasselbe Muster mit aufwendigen Verstecken und großen Mengen, stets verschifft aus Latakia. Auch diesmal war nach Recherchen des Spiegel das weitläufige Verwandtennetz des herrschenden Assad-Clans Produzent und Absender der Drogen (…) Der Hafen von Latakia wiederum steht bis heute unter Kontrolle der Assad-Familien, deren Heimatdorf in der Nähe liegt. Vergangenen Herbst wurde der Hafen an Iran verpachtet, dessen verbündete libanesische Hisbollah-Miliz in den Anfängen der syrischen Drogen-Großproduktion mit Know-how und Chemikalienlieferungen behilflich war. (…)
Doch warum dann den IS präsentieren? Der Verdacht drängt sich auf, dass Italiens Regierung, die bis heute noch Phosphat aus Syrien importiert und deren Vorgängerkabinett im März 2018 den syrischen Geheimdienstchef Ali Mamluk diskret im Privatjet zu einem Regierungstreffen einfliegen ließ, das Verhältnis nach Damaskus nicht trüben möchte.