Eines der größten Hindernisse für den Kampf gegen das Coronavirus im Irak ist das mit Krankheit und Quarantäne verbundene Stigma.
Alissa J. Rubin, New York Times
Dieses Stigma sitzt so tief, dass die Menschen Tests vermeiden, Familienmitglieder daran hindern, sich testen zu lassen, und das Aufsuchen von medizinischer Hilfe so lange hinauszögern, bis sie sich in einem kritischen Zustand befinden. Mehrere irakische Ärzte sagten, dass die Abneigung gegen die Quarantäne und die mangelnde Bereitschaft, eine Krankheit zuzugeben, ein Mitgrund dafür sein könnten, dass die Zahl der bestätigten Fälle im Irak relativ gering ist. Der Irak, ein Land mit mehr als 38 Millionen Einwohnern, hatte bis Montag nur 1.352 bestätigte Covid-19-Fälle zu verzeichnen.
Im Nachbarland Iran dagegen, das etwa doppelt so viele Einwohner wie der Irak hat, liegt die offizielle Zahl bei über 71.000. Das benachbarte Saudi-Arabien, das eine kleinere Bevölkerung als der Irak hat, hat mehr als dreimal so viele bestätigte Fälle. (…)
Das Stigma, das mit Krankheit und Quarantäne im Irak und einigen anderen Ländern des Nahen Ostens verbunden ist, speist sich weitgehend aus kulturellen und religiösen Überzeugungen. Es verdankt sich aber auch einem tief verwurzelten Misstrauen gegenüber der Regierung und der Befürchtung, dass ein Krankenhausaufenthalt angesichts des katastrophalen Zustands des irakischen Gesundheitssystems tödlich sein könnte. (…) „Einige glauben, dass das Virus bedeutet, dass Gott mit ihnen unzufrieden oder dass es Strafe für eine Sünde sei, sodass sie nicht wollen, dass andere sehen, dass sie krank sind“, erklärte Dr. Emad Abdul Razzak, ein beratender Psychiater im irakischen Gesundheitsministerium. (…)
Das Stigma und die Aura der Sündhaftigkeit, die das Virus umgeben, sind so stark, dass die Familien derer, die aus anderen Gründen gestorben sind, sich dagegen wehren, dass die Leichen ihrer Angehörigen im gleichen Leichenschauhaus oder sogar auf dem gleichen Friedhof liegen wie diejenigen, die an dem Virus gestorben sind. (…)
Die Quarantäne der Infizierten führt in vielen irakischen Gemeinden zu einer doppelten Demütigung. Erstens erfährt durch sie jeder in der Nachbarschaft von der Krankheit. Zweitens bedeutet die Quarantäne für einen Mann, dass er nicht mehr in der Lage ist, seine Frau, seine Kinder oder – im Falle eines älteren Bruders – seine jüngeren Geschwister zu schützen, und so seiner Rolle in der Familie nicht mehr gerecht wird. Traditionelle Familien verweigern ihren weiblichen Verwandten manchmal einen Coronavirus-Test, weil sie befürchten, dass sie im Falle eines positiven Testergebnisses aus dem Schoß ihrer Familie gerissen und möglicherweise sexuell kompromittiert werden.