„Ein Selbstläufer werden die vorgezogenen Wahlen am 24. Juni für die regierende AKP nicht. Im Gegenteil, in der Türkei ist zum ersten Mal seit langem eine Wechselstimmung zu spüren. Dabei hatte Staatspräsident Tayyip Erdogan die Wahlen auch deshalb um fast 18 Monate vorgezogen, um die Oppositionsparteien kalt zu erwischen und ihnen nur wenig Zeit zu lassen, einen Wahlkampf zu organisieren. Denn seine AKP ist eine Maschine, die im ständigen Wahlkampfmodus arbeitet. (…) Die Hoffnung der Opposition gründet darauf, dass bei dieser Wahl die Herausforderer Erdogans stärker sind als in der Vergangenheit. Somit könnte es am 8. Juli zu einer Stichwahl um das Präsidentenamt kommen. Sollten die Oppositionsparteien dann geschlossen auftreten, könnten sie Erdogan schlagen, glauben sie. (…)
Getragen wird der Optimismus der Opposition auch davon, dass sich Anfang Mai vier Parteien zu einer ‚Nationalen Allianz‘ (Millet Ittifaki) zusammengeschlossen haben. Dem Wahlbündnis gehören ganz unterschiedliche Parteien an: die CHP, die konservative Iyi-Partei, die Demokratische Partei und die islamistische Saadet-Partei. Es soll sicherstellen, dass auch Parteien ins Parlament einziehen, die, träten sie allein an, unter der Sperrklausel von zehn Prozent blieben. ‚Ziehen sie dank dem Bündnis ins Parlament ein, sinkt die Zahl der Abgeordneten der AKP und der MHP automatisch‘, erwartet der CHP-Abgeordnete Baris Yarkadas. (…) Neben zugkräftigen Herausforderern Erdogans und einer realistischen Chance auf eine Mehrheit der bisherigen Opposition im neuen Parlament sind die Ermüdungserscheinungen der regierenden AKP der wohl wichtigste Grund für die Wechselstimmung. Die 2001 gegründete Partei regiert seit 2002. Immer mehr Türken nehmen sie als eine Machterhaltungsmaschine wahr, der das Personal ausgeht und von der keine neuen Anstöße kommen. Erdogan selbst hat in den vergangenen Jahren Ermüdungserscheinungen in seiner Partei beklagt und Leute ausgetauscht. (…)
Doch der Politikwissenschaftler Nail Alkan von der Gazi-Universität in Ankara dämpft die Erwartungen, die an die Ermüdungserscheinungen der AKP geknüpft werden. Schließlich hätten die Oppositionsparteien auch keine Vision für das Land, und die AKP bringe wieder viele neue Gesichter nach vorne, etwa die 1979 geborene Jülide Sarieroglu, die vor einem Jahr zur neuen Arbeitsministerin berufen wurde. Auch wird erwartet, dass die AKP zahlreiche Kandidaten unter 20 Jahren für die Parlamentswahl präsentiert. (…) Trotz der Wechselstimmung rechnet der Politikwissenschaftler Nail Alkan nicht mit einem Wechsel im Präsidentenamt. Denn die Türken liebten starke Männer wie Erdogan, und sie hätten sich seit 2002 an ihn gewöhnt; sie wüssten also, was sie an ihm hätten.“ (Rainer Hermann: „Wollen die Türken den Wechsel?“)