Der Antisemitismus an der New Yorker Columbia University seit dem 7. Oktober 2023 sowie Straftaten, die damit in Zusammenhang stehen, beschäftigen Justiz und Hochschulverwaltung.
Zu den Verantwortlichen bzw. mutmaßlichen Tätern, sofern es sich um Straftaten handelt, zählen sowohl Studenten und Universitätsmitarbeiter als auch Personen von außerhalb, die sich gar nicht auf dem Universitätsgelände hätten aufhalten dürfen. Wie die New York Times berichtete, war knapp ein Drittel der von der Polizei auf dem Campus Verhafteten Auswärtige.
Die Verfahren gegen die meisten wurden rasch wieder eingestellt. Gegen James Carlson, einen vierzigjährigen Rechtsanwalt aus Brooklyn, der für seinen Aktivismus gegen Israel bekannt und laut dem Bericht der New York Times jüdischer Abstammung ist, erhob der vom Bezirksstaatsanwalt von Manhattan, Alvin L. Bragg jr., jedoch Anklage.
Carlson soll eine israelische Flagge angezündet und in Haft eine Kamera zerstört haben. Auch soll er in ein Universitätsgebäude eingebrochen sein, wofür er in einem gesonderten Verfahren angeklagt wird. »Die mutmaßliche Aktivität dieses Angeklagten ging über legale und friedliche Proteste hinaus», so Bragg in einer Erklärung. »Diese Art von Verhalten wird nicht toleriert.«
Carlson gehört zu etwa fünfzig Personen, die am 30. April auf dem Campus Morningside Heights der Columbia University festgenommen wurden, nachdem sie das Universitätsgebäude Hamilton Hall besetzt hatten, teilte die Polizei mit. Eine Überprüfung der Polizeiakten durch die New York Times ergab, dass neun dieser Personen offenbar keine Verbindung zur Columbia hatten.
Task Force legt Bericht vor
Währenddessen hat die Task Force der Universität ihren zweiten Bericht über den Antisemitismus auf dem Campus veröffentlicht. Der Bericht ist der zweite der Task Force und der erste, der unter der Columbia-Interimspräsidentin Katrina A. Armstrong veröffentlicht wurde. Armstrongs Vorgängerin Nemat Shafik trat letzten Monat zurück, nachdem sie wegen ihres Umgangs mit den Protesten kritisiert worden war.
Die Task Force wurde am 1. November 2023 von den Präsidenten dreier New Yorker Hochschulen – Minouche Shafik (Columbia University), Laura Rosenbury (Barnard College) und Thomas Bailey (Teachers College) – »als Teil der Verpflichtung, sicherzustellen, dass unsere Universitäten für jüdische Studenten, Lehrkräfte und Mitarbeiter und für uns alle sicher, einladend und inklusiv sind«, gemeinsam ins Leben gerufen.
Der erste Bericht, der im März erschienen war, hatte eher den Charakter einer Hausordnung; in ihm ging es fast ausschließlich um Regeln, die bei Demonstrationen auf dem Campus zu beachten seien. Der Ende August vorgelegte zweite hingegen enthält zahlreiche Aussagen von Zeugen, die in Anhörungen ihre Erfahrungen geschildert hatten. Ester R. Fuchs, Professorin für öffentliche Angelegenheiten an der Columbia und Co-Vorsitzende der Task Force, sagte, diese Untersuchung unterscheide sich von ähnlichen Bemühungen an anderen Universitäten dadurch, als sie sich auf die Ansichten der Studenten konzentriere: »Einige waren der Meinung, dass Antisemitismus an Universitäten kein echtes Problem sei, deshalb hielten wir es für wichtig aufzuzeigen, was den Studenten tatsächlich widerfährt.»
Die Zeugen beschrieben eine Atmosphäre der Angst, die Juden und Israelis an der Columbia erdulden müssen. Nach dem 7. Oktober hatten zahlreiche jüdische und israelische Studenten Fälle von Belästigung, Beschimpfung, Ausgrenzung und Gewalt geschildert. Daraufhin erging ein Aufruf an alle Studenten, diesbezügliche Vorfälle der Task Force zu melden. In zwanzig Anhörungen erzählten fünfhundert Studenten von ihren Erfahrungen. Die Zeugenaussagen in dem Bericht sind thematisch gegliedert.
Erlebnisse der Studenten im Alltag
Nach dem 7. Oktober berichteten zahlreiche Studenten, sich nicht mehr sicher zu fühlen. Bei einer Studentin, die eine Mesusa an die Tür ihres Wohnheimzimmers angebracht hatte, »begannen im Oktober Leute, zu allen Zeiten der Nacht an ihre Tür zu hämmern und von ihr zu verlangen, Israels Vorgehen zu erklären. Sie sah sich gezwungen, aus dem Wohnheim auszuziehen.«
Sichtbar gläubige jüdische Studenten, die etwa traditionelle Kopfbedeckungen tragen, sind häufig mit extremer Feindseligkeit konfrontiert. Eine Studentin gab zu Protokoll: »Auf dem Campus wurden meine Freunde angespuckt und mit schrecklichen, furchtbaren Ausdrücken beschimpft. Eine sehr enge Freundin von mir wurde als Befürworterin von Völkermord und Babymord beschimpft. Das war nur ein paar Tage nach dem 7. Oktober.«
Eine andere Studentin wurde eines Nachts gemeinsam mit ihrem Bruder vom Campus gejagt. Viele jüdische Kommilitonen verbergen angesichts dieser Situation ihre Identität. Ein Student drückte es so aus: »Wenn ich jetzt mit meinem [David-]Stern oder meiner Kippa auf dem Campus herumlaufe oder ›Am Yisrael chai‹ [›Das Volk Israel lebt‹] sage, könnte ich den Dritten Weltkrieg auslösen.«
Viele jüdische Studenten vermeiden, allein über den Campus zu gehen; einigen wurden ihre Ketten vom Hals gerissen oder sie selbst an die Wand gedrückt, als sie am Freitagnachmittag zu ihren Wohnheimen zurückkehrten oder auf dem Weg zur Synagoge waren. Sprüche wie »Geht zurück nach Polen« oder »Ich hoffe, ihr leidet. Ihr denkt, es ist in Ordnung, unschuldige Babys zu töten und Krankenhäuser zu bombardieren« wurden laut.
Darüber hinaus wurden Witze über Hitler auf den Whiteboards der Gemeinschaftswohnheime gekritzelt. Viele Studenten beschrieben den Gang durch die Flure als quälende tägliche Routine.
Mehr als einmal in den Anhörungen fragten Studenten, ob erst jemand erstochen oder erschossen werden müsse, damit die Universität etwas unternehme. Ein anderer sagte: »Alles, was wir mitgeteilt haben, ist sehr gut dokumentiert. … Und so ist die emotionale Erschöpfung, die wir alle dadurch verspüren, dass wir das immer und immer wieder tun, sehr groß.« Ein anderer sagte: »Ich bin erschöpft davon, Israels Existenzrecht verteidigen zu müssen.»
So leiden viele unter Angstzuständen und Schlaflosigkeit, was noch dadurch verschlimmert wurde, dass es auch außerhalb der angemeldeten Zeiten Anti-Israel-Demonstrationen auf dem Campus gab. »Eine Studentin erzählte, dass sich ihre psychische Gesundheit jede Woche verschlechtert habe, und sie war nicht die einzige«, heißt es in dem Task-Force-Bericht.
Ein Student gab an, mit den Worten »Wir wollen hier keine Zionisten« angeschrien worden zu sein, obwohl er und seine Freunde keine jüdischen Symbole getragen hätten: »Sie trugen Kufiyas und schubsten uns. Niemand unternimmt etwas.« Die Autoren des Berichts merkten an, dass der Satz »Wir wollen hier keine Zionisten« die Wahrnehmung etlicher Studenten widerspiegle, wonach die Begriffe »Zionist« und »Jude« äquivalent benutzt werden oder es zumindest einen fließenden Übergang gibt: »Ein Student hörte, wie ein anderer jemandem sagte, er versuche, die Hewitt Dining Hall zu meiden, da sich dort die koschere Mensa befinde und dort ›all die Zionisten‹ seien.«
Tatsächlich, so der Bericht, enthalte die »Kritik des Zionismus« auf dem Campus in den letzten Monaten »traditionelle antisemitische Klischees über geheime Mächte, Geld, globale Verschwörungen, Blutdurst und Vergleiche von Zionisten mit Nazis oder Nagetieren«. Auf Organogrammen der Universität wurden jüdische Kuratoren markiert, in Karikaturen Israelis mit Stinktieren verglichen und auf Plakaten »zionistische Geldgeber« aufgefordert, »ihre Hände von unserer Universität zu lassen«.
Ein Student legte mehr als 750 antisemitische Onlinebeiträge von Studenten und Organisationen der Columbia University vor. »Obwohl viele davon nicht gegen das Gesetz verstoßen, sind sie dennoch zutiefst beunruhigend und würden allgemeine Ablehnung hervorrufen, richteten sie sich gegen andere Gruppen oder Länder«, so der Bericht.
Ein Student der School of General Studies erzählte von einer Nachricht, in der behauptet wurde, Israel sei »ein Fake-Land voller Rassisten, Pädophiler und Kolonisatoren«. Andere Studenten wiesen darauf hin, dass soziale Medien genutzt würden, um Veranstaltungen und Demonstrationen auf dem Campus zu organisieren und zu koordinieren, die noch gar nicht von der Verwaltung genehmigt wurden und in einigen Fällen gegen die Regeln der Universität verstießen.
Ausgrenzung
Der Bericht enthält zahlreiche Beispiele dafür, dass Juden und Israelis nicht mehr am gewohnten sozialen Leben der Universität teilnehmen können. Viele Studenten, die eine positive Beziehung zu Israel bekundeten, fühlten sich von studentischen Interessengruppen oder Clubs ausgeschlossen. »Viele dieser Organisationen hatten nichts mit Israel, Palästina oder dem Nahen Osten zu tun, forderten aber dennoch einen solchen Lackmustest«, so der Bericht. Der »vielleicht berüchtigtste Vorfall«: »Der Gründer einer LGBTQ+-Gruppe versuchte, Zionisten von den Veranstaltungen der Gruppe auszuschließen, indem er einen Flyer mit dem Text ›Hier heißt es FREE PALESTINE. Zionisten sind nicht eingeladen‹ verschickte.«
Auch in diesem Fall geht klar hervor, dass der Begriff »Zionist« im Sinne von »Juden« benutzt wurde, denn: »Weiße Juden sind heute und waren schon immer die Unterdrücker aller braunen Menschen.« Der Holocaust sei »nichts Besonderes«. Studenten äußerten in den Anhörungen die Befürchtung bzw. Wahrnehmung, dass derartiges Verhalten keinerlei Konsequenzen nach sich ziehe.
Der Bericht erwähnt auch Laienschauspieler, die ihre Unterstützung für Israel verheimlichten, um weiterhin Rollen in studentischen Theaterproduktionen zu erhalten, und Autoren von Texten, die von Publikationen ausgeschlossen wurden.
Jüdische Studenten hätten auch gemeinnützige Aktivitäten für Arme, Kranke und Benachteiligte in New York aufgegeben, weil die betreffenden Gruppen Erklärungen veröffentlichten, in denen sie Israel für die Angriffe der Hamas am 7. Oktober verantwortlich machten. In dem Bericht heißt es: »In vielen Fällen war die Atmosphäre so unangenehm, dass zionistische Studenten von sich aus beschlossen, die Gruppe zu verlassen; in einigen Fällen wurden zionistische Studenten jedoch aus der Gruppe ausgeschlossen.«
Der Antisemitismus erstreckt sich nicht nur auf Demonstrationen und tägliche Begegnungen, sondern auch auf manche Lehrinhalte. In einem Seminar der Mailman School of Public Healthstellte der Professor ausführlich und namentlich jüdische Spender der Columbia University vor, von denen einer der Namensgeber der Universität und ein anderer der eines der Gebäude der Universität ist, heißt es im Bericht. Er nannte diese jüdischen Männer »reiche, weiße Kapitalisten», die »schmutziges Geld« und »Blutgeld« an der Columbia »gewaschen« hätten.
In der zweiten Veranstaltung der Seminarreihe mussten die Studenten eine Fallstudie durchführen, in der sie die Rolle des Geschäftsführers einer fiktiven neuen gemeinnützigen Gesundheits- und Menschenrechtsorganisation spielten. Ihre Aufgabe war es, die erste Menschenrechtsmission der Organisation zu konzipieren und zu leiten. Die Studenten wurden angewiesen, ein Projekt an einem von drei Standorten zu finanzieren: dem palästinensischen Flüchtlingslager Aida, Mariupol in der Ukraine oder der Navajo-Nation. »Der Professor wies die Studenten an, bei ihren Finanzierungsentscheidungen zu berücksichtigen, dass einige ›Ihre Bemühungen gerne unterstützen, Ihr Entwicklungsteam jedoch besorgt ist, dass die Arbeit in Palästina wohlhabende US-Spender, die Israel unterstützen, abschrecken könnte‹.«
In der dritten Sitzung lud der Professor ein Gremium von Gastrednern ein, welche die Idee der »Siedlerkolonialisierung der Gesundheit« vorstellten, vom »sogenannten Israel« sprachen und »Israel-Palästina« als Hauptbeispiel für einen Staat verwendeten, in dem ein »Recht auf Gesundheit« niemals verwirklicht werden könne. Einer der Gastdozenten sagte den Studenten, auf Debatten mit Personen, die den Begriff »Siedlerkolonialismus« ablehnten, solle man sich am besten gar nicht einlassen.