Wie antisemitischer Wahn rationalisiert wird

Von Alex Feuerherdt

Kann muslimischer Antisemitismus gerechtfertigt sein? Zum Beispiel, wenn „Juden aus aller Welt arabisches Land besiedeln“? Das werden Zeit und Zeit Online ja wohl noch fragen dürfen!

Wie antisemitischer Wahn rationalisiert wird
Quelle: https://twitter.com/zeitonline/status/985917913956868098

Am Montagabend veröffentlichte Zeit Online einen Tweet, der einem nachgerade die Sprache verschlagen konnte. „Kann ‚muslimischer‘ Antisemitismus gerechtfertigter sein als der von christlich sozialisierten Europäern?“, wurde darin gefragt, und die Antwort folgte sogleich: „Ja, findet David Ranan“, der Autor des Buches „Muslimischer Antisemitismus. Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland?“, dessen Werk Tomasz Kurianowicz für Zeit Online rezensiert hat. Schon die Verwendung des Komparativs bedeutet, dass die Internetredaktion der bildungsbürgerlichen Wochenzeitung dem Antisemitismus jedweder Couleur keineswegs grundsätzlich die Legitimität absprechen will, was den Grünen-Politiker Volker Beck dann auch, ebenfalls in einem Tweet, zu einer sarkastischen Antwort veranlasste: „Noch gerechtfertigter als unserer? Ich bitte Sie, liebe Zeit! Wir haben Paulus, Luther, Kant, Houston Stewart Chamberlain, Richard Wagner, Heidegger, Alfred Rosenberg. Das muss man für eine Rechtfertigung erst einmal aufbieten!“

Einiges Lob wurde Zeit Online dafür zuteil, inzwischen um Entschuldigung für diese Formulierung gebeten zu haben. Doch mit einem solchen Zurückrudern verhält es sich in den Medien, wenn es um Antisemitismus geht, letztlich immer gleich: Erstens findet es nicht annähernd die gleiche Aufmerksamkeit wie der ursprüngliche Beitrag, zweitens hat es keine inhaltlichen Konsequenzen – die nächste Unzumutbarkeit lässt meist nicht lange auf sich warten. Dass nicht nur Zeit Online, sondern auch die Zeit selbst gerne befremdliche Ankündigungen publiziert, ließ sich einige Tage vor dem besagten Tweet beobachten. Auf der Titelseite der aktuellen Ausgabe heißt es unter der Überschrift „70 Jahre Israel – Warum kommt das Land nie zur Ruhe?“ nämlich: „Einst besiedelten Juden aus aller Welt arabisches Land: Sie schufen einfach Fakten, aus denen der Staat Israel wuchs. Diese Entschlossenheit ist bis heute Segen und Fluch.“

Hier wurde also kaum verklausuliert die Mär vom jüdischen Landraub wiedergekäut, die als monokausale Erklärung dafür dient, warum „das Land nie zur Ruhe kommt“. Das Dossier von Bastian Berbner im Innenteil der Zeitung, auf das der Titel hinweist, knüpft zunächst an diese Mär an. „Zerlegt man die moderne Geschichte Israels in kleine Teile und betrachtet jedes Dorf, jede Stadt für sich, dann zeigt sich ein Muster, an dem sich in 120 Jahren nichts verändert hat: Immer wollen einige wenige Pioniere auf einem Stück Land siedeln, das ihnen nicht gehört“, steht dort zu lesen. „Immer hat jemand etwas dagegen. Nicht selten jemand Mächtiges, oft eine Regierung. Und mit erstaunlicher Regelmäßigkeit sind es am Ende die Siedler, die sich durchsetzen.“ Das sei „kein Zufall“, sondern „das Resultat eines politischen Prinzips, das nie explizit niedergeschrieben, auf keinem Kongress verabschiedet, nicht einmal strategisch erdacht wurde“.

Was an dieser Stelle klingt, als wollte jemand den Mythos von der jüdischen Weltverschwörung bedienen, bestätigt sich in der Folge allerdings nicht. Der Autor stellt vielmehr rational und keineswegs negativ dar, wie bereits lange vor dem Ende des Osmanischen Reiches, dem britischen Mandat in Palästina und der Gründung Israels vom Jischuw allmählich die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen für einen jüdischen Staat geschaffen wurden, wie ihn Theodor Herzl ersonnen hatte. Überdies stellt Berbner fest, die Shoa habe endgültig gezeigt, dass die Juden ein eigenes Land benötigen, um dort Zuflucht vor dem Antisemitismus zu finden – und dieses Land stehe ihnen auch zu. Außerdem sehne sich „das jüdische Volk nicht nach Macht, sondern nach Sicherheit“. Warum die Araber dagegen immer wieder mit Gewalt vorgingen, schreibt Berbner allerdings nicht. Er hält es schlicht für „natürlich“, dass sie der wachsenden jüdischen Präsenz „nicht tatenlos“ zuschauten.

 

Verständnis für muslimischen Antisemitismus

Wie antisemitischer Wahn rationalisiert wird
Quelle: https://twitter.com/AJCBerlin/status/984358642035187712

Dass es am Antisemitismus liegen könnte, zieht er nicht einmal in Erwägung, obwohl es beispielsweise Pogrome wie jenes in Hebron im Jahr 1929 deutlich zeigen. Hier spannt sich der Bogen zu David Ranan und der Besprechung seines Buches durch Tomasz Kurianowicz für Zeit Online. Der Politikwissenschaftler Ranan hat mehr als 70 deutsche Muslime interviewt, um etwas über deren Haltung zu Juden, zu Israel und zum Antisemitismus zu erfahren – und um herauszufinden, inwieweit ihre Äußerungen jene Studien bestätigen, die eine große Verbreitung antisemitischer Einstellungen unter Muslimen feststellen. Kurianowicz fasst zusammen: „Viele seiner jungen, gut gebildeten Gesprächspartnerinnen und -partner gingen davon aus, dass Juden über zu viel Einfluss in der Finanzbranche verfügten; dass sie sich gegenseitig stützten, Seilschaften bildeten und zu viel Macht über große Konzerne und Banken besäßen; dass sie die Weltpolitik beherrschten und sich in Geheimverbänden organisierten; dass man sie nicht kritisieren dürfe und sie in Deutschland über mehr (und zu viel) Schutz verfügten als andere Minderheiten.“

Die Zitate seien „zweifellos deprimierend“, schreibt der Autor. Doch Ranan versuche, „ihren antijüdischen Gehalt zu entschärfen, indem er einen definitorischen Unterschied macht zwischen dem europäischen Antisemitismus samt seinen Phantasmen einer jüdischen Übermacht und dem ‚sachlich sogar nachvollziehbaren Gefühl vieler Muslime, besonders arabischer, dass nur eine überwältigende Macht es dem kleinen Israel ermöglichen konnte, sich mit solchem Erfolg Palästina einzuverleiben‘“. Folgte man Ranan, so Kurianowicz, dann wäre zu schlussfolgern, „dass Antisemitismus und dessen Bewertung von der Sozialisation und den Lebensumständen des Sprechers abhängen“. Es wäre also „etwas qualitativ anderes, wenn ein in Palästina aufgewachsener Muslim antisemitische Klischees reproduziert als wenn der im hessischen Friedberg geborene, christlich sozialisierte Rapper Kollegah dies tut“. Während der eine aus einer realen Unrechtserfahrung spreche, schöpfe der andere aus antisemitischen Idiomen, die sich nicht rational und unmittelbar kontextuell erklären lassen.

David Ranan bringt also ein gewisses Verständnis für die Interviewten auf, indem er ihren Antisemitismus rationalisiert, das heißt, als Reaktion auf den Nahostkonflikt versteht, die es ohne diesen Konflikt – besser gesagt: ohne Israel – nicht gäbe. Er kann es sogar nachvollziehen, wenn Muslime glauben, die jüdische Weltverschwörung stecke hinter dem jüdischen Staat und der Tatsache, dass die Palästinenser keinen eigenen Staat haben. Das ist für ihn jedenfalls kein „wahrer Antisemitismus“, wie er überhaupt findet, dass viel zu schnell und viel zu oft von Antisemitismus gesprochen wird. Man solle nicht „jeden Mobbingfall zur Antisemitismusschlagzeile machen“, sondern lieber im Gespräch mit Muslimen „Vorurteile abbauen“. Man darf bezweifeln, dass ihm das auch nur bei seinen Gesprächspartnern ernsthaft gelungen ist. Denn Ranans keineswegs originellem Ansatz liegt schon der grundsätzliche Denkfehler zugrunde, dass Antisemitismus etwas mit dem konkreten Verhalten von Juden zu tun hat.

 

Wer Antisemitismus rationalisiert, macht ihn schlimmer

Wie antisemitischer Wahn rationalisiert wird
Quelle: Manfred Sauke, CC BY-SA 3.0

Mehr noch: Durch die Annahme, die Änderung dieses konkreten Verhaltens – also Konzessionen gegenüber Menschen, die Juden hassen – könnte am Antisemitismus etwas ändern, wird die Verantwortung für ihn den Juden zugeschoben. Das mag Ranan nicht beabsichtigt haben, aber im Ergebnis ist das unerheblich. Es befreit die Antisemiten von ihrer Verantwortung und lässt sie auch noch glauben, im Recht zu sein. Es gibt nicht nur keine „überwältigende Macht“, die es „dem kleinen Israel ermöglichen konnte, sich mit solchem Erfolg Palästina einzuverleiben“, es gibt auch keine solche Einverleibung. Wer glaubt, die wahnhaften und damit irrationalen Ressentiments von Antisemiten gleich welcher Provenienz dadurch angehen zu können, dass er ihnen einen rationalen Kern zubilligt, und wer meint, den Antisemitismus wegdefinieren zu können, macht ihn nur noch schlimmer.

Der muslimische Antisemitismus ist keineswegs nachvollziehbarer oder gerechtfertigter als der christlich-europäische, es ist überhaupt kein Antisemitismus nachvollziehbar oder gerechtfertigt. Alle seine Spielarten sind und bleiben: Antisemitismus. Keine wie auch immer geartete Unrechtserfahrung vermag daran etwas zu ändern. Tomasz Kurianowicz macht sich den Ansatz und die Erklärungen des Autors, dessen Buch er bespricht, zwar nicht zu eigen. Aber er kritisiert Ranan nur, weil er seine Argumente für widersprüchlich und „ein wenig schwammig“ und seinen Antisemitismusbegriff für „unscharf“ hält. Auf die Virulenz und Gefährlichkeit des muslimischen Antisemitismus geht er gar nicht erst ein, stattdessen schreibt er am Schluss seines Textes: „Bei all der Aufregung sollte man eines aber nicht vergessen: Dass der Antisemitismus nicht allein ein muslimisches Phänomen ist. Laut der Bundesregierung gehen 95 Prozent der antisemitischen Straftaten auf das Konto von Rechtsextremen.“

Das liegt allerdings nicht zuletzt daran, dass jeder antisemitische Vorfall, der nicht eindeutig einem politischen Spektrum zugerechnet werden kann, von den deutschen Behörden automatisch als rechtsextremistisch eingestuft wird. Auf diese Weise wird die Realität verzerrt. Zwar würde kein ernst zu nehmender Mensch behaupten, dass der rechte und rechtsextremistische Hass auf Juden ein vernachlässigbares Problem ist. Aber den muslimischen Antisemitismus als Reaktion auf vermeintliches israelisches Unrecht zu rationalisieren, wegzudefinieren und herunterzuspielen, wird der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit so wenig gerecht, wie ihn zur einzig relevanten Form des Antisemitismus zu erklären und so den originär deutschen, europäischen, christlichen Hass auf Juden zu bagatellisieren.

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