Diese Schamhaftigkeit sei eine Entwicklung jüngeren Datums, die von einem falschen Verständnis religiöser Fundamentalien des Islam geprägt sei, so der muslimische Theologe und als Aufklärer gehandelte Blogger Ali Ghandour in seinem neuen Buch ‚Liebe, Sex und Allah. Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime‘. (…)
So entsteht die Vorstellung einer libertären muslimischen Ethik im Umgang mit den Lüsten, die jedoch, wie der Autor eingangs selbst feststellt, nicht repräsentativ ist. Vielmehr handelte es sich um Diskurse, die lediglich von einer Minderheit überwiegend männlicher intellektueller Eliten und Oberschichten der urbanen Zentren geführt wurden und also über deren Lebenswandel Auskunft geben.
Auch die Tatsache, dass die hier beschworene Lusttoleranz für Frauen nur äußerst bedingt galt, macht die Repräsentativität des beschworenen Bildes einer islamischen Laissez-faire-Moral nicht größer. Trotzdem vermittelt der Autor immer wieder den Eindruck, es handele sich um eine jahrhundertealte, gesellschaftsweit verbreitete ‚Tradition‘ der Toleranz.
20 Seiten reichen Ghandour, um den Hauptverantwortlichen auszumachen, der für den Untergang dieser jahrhundertealten, lustfreundlich-ambigen muslimischen Tradition genauso verantwortlich ist wie für den Aufstieg einer religiös fundierten, repressiven Sexualmoral, dank derer Länder wie Saudi-Arabien auch heute noch vor allem ihre weibliche Bevölkerung drangsalieren. ‚Durch die Kolonialherrschaft kam es zu einem Traditionsbruch, von dem die Muslime sich bis heute nicht erholt haben‘, schreibt er, und viel differenzierter wird es auch nicht mehr.
Das Buch mündet in einen islamischen Opferdiskurs, bei dem die Forderung nach einer differenzierteren Betrachtungsweise der Realitäten hinter großen Allgemeinplatzbegriffen nicht mehr zählt. Es entsteht das von Kenntnis kolonialer Herrschaftsrealität wenig getrübte Bild einer handstreichartigen Gleichschaltung, die in der muslimischen Welt um 1900 stattgefunden zu haben scheint (…)
Es bedürfte größerer historischer Expertise, um Einflussprozesse kolonialherrschaftlicher Mächte und westlicher Wertbegriffe auf islamische Gesellschaften angemessen abzuhandeln. Postkoloniale Diskursanalyse in betagter Edward-Said-Tradition reicht da sicher nicht. (…)
Letztlich geht es auch um eine Apologie der islamischen Glaubensordnung, über deren ganz eigenständigen Sexismus und hausgemachte Frauenfeindlichkeit man hier nur wenig liest.“ (Eva Berger: „Verklärte islamische Welt“)
[Anmerkung der Redaktion: Sie können sich diesen Artikel vorlesen lassen, indem Sie auf das „Play“-Symbol über dem Text klicken. Das ist ein Pilotprojekt, die Software befindet sich in der Testphase. Wir freuen uns über Ihr Feedback an info@mena-watch.com.]