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Wenn wir gegen die Türkei kämpfen, kämpfen wir gegen die NATO (Teil 2)

Demonstration in Jerusalem (Foto: Amit Barak)

Amit Barak spricht mit Metin Rhawi von der European Syriac Union – einem Dachverband syrisch-aramäischsprachiger politischer Organisationen und Kulturvereine – über die Situation der Kurden und Christen in Nordostsyrien.

Am vorvergangenen Samstagabend beteiligte sich eine in Jerusalem ansässige christliche Organisation namens Jerusalemer Initiative an der Organisation einer Demonstration zur Unterstützung der Kurden und Christen in Nordostsyrien.

Um die aktuelle Situation zu verstehen, nahm ich mit Hilfe der Jerusalemer Initiative telefonisch Kontakt mit Metin Rhawi auf, dem Leiter der Abteilung für auswärtige Angelegenheiten der European Syriac Union, einem Dachverband verschiedener syrisch-aramäischsprachiger politischer Organisationen und Kulturvereine in Europa. Das Gespräch kam mit der Hilfe eines ranghohen Christen in den Reihen der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) zustande.

Mena-Watch: Wie sieht die humanitäre Lage der Zivilisten genau aus?

Metin Rhawi: Wie Sie sich sicher vorstellen können, gibt es während eines Krieges immer nur eine mangelhafte Versorgung, und das trifft auch auf Syrien zu. Am schlimmsten war es natürlich, als der Krieg im Jahre 2011 ausgebrochen ist, aber seit der SDC und die SDF unsere Gebiete regieren, ist es besser geworden, sowohl was die Sicherheit betrifft, als auch in Hinblick auf den Zugang zu Lebensmitteln, Elektrizität, Wasser und andere Güter und Leistungen. Aber klar, Syrien befindet sich im Krieg, d.h. im Vergleich zu Friedenszeiten herrscht natürlich in fast jeder Hinsicht Mangel.

Bis zu einem gewissen Level hatten wir die notwendige Versorgung, und dank der Zusammenarbeit mit der internationalen Koalition, sowohl im Kampf gegen den IS als auch danach, hat der Grenzverkehr zum Irak einigermaßen gut funktioniert.

Mena-Watch: Gibt es Kurden und Christen, die das Gebiet verlassen?

Rhawi: Natürlich sind viele aus der Region und dem Land geflüchtet, aber die Mehrheit in unserer Region hat sich bis zum Beginn von Erdogans Angriff sicher gefühlt. Jetzt ziehen viele in Dörfer und Orte, die weiter von der türkischen Grenze entfernt liegen. Sie sind zu intern Vertriebenen geworden.

Mena-Watch: Können sie sich auf den Straßen frei bewegen? Gibt es Hindernisse und Checkpoints, die errichtet wurden, um den türkischen Truppen entgegenzutreten?

Rhawi: Die SDF hat zusammen mit den Amerikanern und der internationalen Koalition gegen den IS die Grenze zur Türkei überwacht. Jetzt, nach dem Rückzug der USA, mussten wir uns Erdogans Aggression und Invasion alleine stellen. Klarerweise fungieren die Straßen als Transportwege für die Truppen und sind im Moment sehr gefährliche Orte.

Seit dem amerikanischen Rückzug haben wir nur mehr leichte Waffen zur Verfügung. Erdogan verwendet dagegen sein ganzes Waffenarsenal, etwa Flugzeuge, Kampfpanzer und andere schwere Waffen. Wir sind weit entfernt von einem Kampf auf Augenhöhe. Erdogan wollte hier im Nordosten wiederholen, was er schon in Afrin getan hat. Glücklicherweise hat die internationale Gemeinschaft dieses Mal anders reagiert, das hat seinen Angriff auf uns ein wenig ausgebremst.

Mena-Watch: Gibt es in diesem Gebiet irgendeine humanitäre Hilfe?

Rhawi: Wir erhalten fast gar keine Hilfe von außen, weil internationale Hilfe nur Assad zugutekommt. Die Vereinten Nationen und das Rote Kreuz bleiben in Damaskus, wir erhalten von ihnen nichts.

Die Hilfe, die wir bekommen, kommt von zivilgesellschaftlichen Hilfsorganisationen aus der westlichen Welt. Die Unterstützung speziell für Christen kommt von unseren Gemeinden im Westen. Unbestätigten Informationen zufolge müssen von jetzt an alle humanitären Hilfslieferungen nach Syrien über Damaskus abgewickelt werden.

Mena-Watch: Welche Art humanitäre Hilfe wird von den Gemeinden benötigt?

Rhawi: Wir brauchen alles, vom Essen bis zur Medizin.

Mena-Watch: Wie ist die Lage der Flüchtlinge?

Rhawi: Im Augenblick steigt die Zahl der Binnenflüchtlinge stärker als die Zahl derjenigen, die das Land verlassen. Hunderttausende haben ihr Zuhause verlassen, sowohl Christen als auch Kurden. Diese Flüchtlinge haben alles verloren, was sie hatten. Die, die geblieben sind und das Land nicht verlassen haben, sind entschlossen zu bleiben. Sie werden bleiben, selbst unter den viel schwierigeren Umständen, die durch den Krieg heute entstanden sind.

Wenn wir gegen die Türkei kämpfen, kämpfen wir gegen die NATO (Teil 2)
Truckkonvoi mit humanitärer Hilfe der Kurdischen Regionalregierung im Irak (KRG)

Mena-Watch: Was erwarten Sie sich von Seiten der übrigen Welt?

Rhawi: Wir sind enttäuscht. Bis jetzt hat die Welt nichts getan. Wir verlangen von allen demokratischen Kräften, egal ob politisch oder militärisch, sich Erdogan und seinen Söhnen entgegenzustellen – denen, die Erdogan „Mohammeds Armee“ nennt. Wir wollen, dass die Welt entschieden auf die Invasion reagiert und uns dabei hilft, einen Dialog zu beginnen und eine friedliche Lösung zu finden. Wir hoffen, dass die Welt weitere wirtschaftliche Sanktionen verhängt.

Ich will ihnen das Übereinkommen erklären, das die Völker im Nordosten Syrien getroffen haben. Wir haben jetzt eine militärische Vereinbarung mit Syrien. Die syrische Armee wird die Grenze beschützen. Wir werden ihr helfen, und sie wird uns helfen, den Völkermord zu verhindern, den Erdogans Armee Mohammeds angekündigt hat. Tötet die Ungläubigen, das hat er gesagt. Wir hatten nur eine Wahl: abgeschlachtet zu werden oder diese Vereinbarung zu unterzeichnen.

Wir haben nicht den Eindruck, alles in Syrien verloren zu haben, die Dinge können sich noch ändern. Die Russen sind mit von der Partie, wir müssen sehen, welche Schritte sie setzen werden. Gegen die Türkei zu kämpfen, ist eine große Sache, sie ist eine NATO-Armee. Wenn wir gegen die Türkei kämpfen, kämpfen wir gegen die NATO, deren Expertise, Ausbildung, Ausrüstung, Technologie. Ein militärischer Riese.

Bei den nächsten Gesprächen mit dem syrischen Regime wird es um politische und Menschenrechtsfragen gehen müssen. Unsere Ideen, die Ideen der SDF, müssen in den Gesprächen über die Zukunft Syriens vertreten sein.

Mena-Watch: Was glauben Sie kann der Staat Israel tun?

Rhawi: Wir erwarten von Israel nicht mehr als von anderen Ländern. Wir brauchen jeden, um uns dabei zu helfen, Frieden und Dialog zwischen den kämpfenden Parteien zu erreichen. Israel muss in Zusammenarbeit mit anderen tun, was es kann. Das israelische Volk, die vielfältige israelische Gesellschaft, kann ein gutes Model für ein zukünftiges Syrien sein. Wir alle wissen und sollten uns immer vor Augen halten, dass die Christen – speziell die Aramäer – und das Volk der Juden gemeinsame Wurzeln und Werte haben.

Das letzte, was ich zu Ihnen und den Israelis sagen will, ist: Schützt Eure Grenzen! Wir leben in einem dschihadistischen Nahen Osten – hütet Euch vor Erdogan!

Mena-Watch: Was erwarten Sie sich von den Christen in Israel im Allgemeinen und von den aramäischen Christen im Besonderen? Wie können sie helfen?

Rhawi: Die Christen in Israel sollten ihre Stimme für uns und gegen Erdogan erheben, den Vater des IS. Sie sollten protestieren und beten. Wir haben die Demonstration von Christen in Jerusalem und das Gebet der Christen in Grabeskirche gesehen, das die „Jerusalem Initiative“ organisiert hat, und sind dankbar dafür. Die Assyrer und Aramäer sollten sich daran erinnern, dass sie Kinder der Überlebenden von Völkermord sind. Ich erwarte mir von ihnen, dass sie sich nicht über Kleinigkeiten streiten, sondern gemeinsam zur Unterstützung ihrer Schwestern und Brüder in Syrien beten.

Mena-Watch: Was erwarten Sie sich von den Juden in aller Welt?

Rhawi: Alle Juden und andere einflussreiche Leute müssen ihre Kraft und ihre politische Macht dafür einsetzen, den Krieg zu beenden und einen Dialog zu beginnen.

Wenn wir gegen die Türkei kämpfen, kämpfen wir gegen die NATO (Teil 2)
Logo der European Syriac Union (Quelle: Source NFCC#4, Fair use)

Mena-Watch: Was ist die European Syriac Union?

Rhawi: Die European Syriac Union war schon unter mehreren verschiedenen Namen tätig, seit 2004 beitreiben wir Lobbying, mit einem Fokus aus das Europäische Parlament in Europa und auf die USA. Wir sind in sieben europäischen Ländern vertreten.

Mena-Watch: Wie viele christliche Aramäer leben in Europa?

Rhawi: Ich würde uns in Europa auf rund 700.000 schätzen, aber nicht nur Aramäer, sondern auch Assyrer und Chaldäer.

Mena-Watch: Woher kamen sie und in welchen Ländern leben sie heute?

Rhawi: Wir kommen ursprünglich aus der Türkei, dem Irak, aus Syrien und dem Libanon. Wir leben mehr oder minder in ganz Europa.

Mena-Watch: Wann und warum sind Aramäer und andere Christen aus dem Nahen Osten nach Europa geflohen?

Rhawi: Die Migration begann kurz nach dem Konflikt zwischen der Türkei und Griechenland über Zypern. In den Jahren 1974/75 hatten wir als Christen Hass und Drohungen zu erleiden, weil die Griechen auch Christen sind. Natürlich gab es viele andere und tiefergehende Gründe, die aber alle auf dieselbe Wurzel zurückgehen. Als Christen wurden wir in der Türkei verfolgt, während des als Safyo bezeichneten Völkermords von 1915 wurden rund 600.000 unseres Volkes ermordet. Durch diesen Genozid hat uns kurz vor die Auslöschung gebracht. Safyo hat in unserer Gemeinschaft ein großes Trauma hinterlassen, das in unserem alltäglichen Leben mit uns ist.

Mena-Watch: Was sind Ihre Erwartungen an die Patriarchen und Kirchenführe der verschiedenen Strömungen in der Welt?

Rhawi: Alle Pastoren, christlichen Führer, politischen Führer und Kirchenführer, Patriarchen, Mönche, Bischöfe, Priester, Gemeindeführen sollen ihre Stimme erheben! Wir sollten ihre Stimmen der Unterstützung hören. Wenn sie glauben, auf der richtigen Seite zu stehen, sollte sie laut werden. Wir alle sollten für alle von uns zu Gott beten. Wir erwarten von allen Christen weltweit, den Krieg in Syrien zu beenden, egal ob er sich gegen Christen oder Muslime, gegen Aramäer, Kurden oder Araber richtet. Die Kirchen werden ohne die Christen im Nahen Osten nicht überleben. Wir sollten alle für uns beten.

Teil 1 des Interviews finden Sie hier.

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