Benjamin Hammer, Korrespondent im ARD-Hörfunkstudio Tel Aviv, hat aus Anlass des zehnten Jahrestags der Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Shalit aus der Geiselhaft der Hamas in einem auf tagesschau.de veröffentlichten Beitrag an den Fall erinnert – auf eine ganz eigene Weise.
Begriffe wie „Geisel“, „Geiselnehmer“, „Geiselnahme“, „Geiselhaft“, „Kidnapper“, „Entführung“ oder „Entführer“, vermeidet er penibel. In Hammers Darstellung werden alle Spuren eines Verbrechens verwischt, aus der Geisel Gilad Shalit wird, so die Überschrift: Gilad Shalit – ein wertvoller Gefangener.
Zur Erinnerung: Am Sonntag, den 25. Juni 2006, hatten Terroristen der Hamas und der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) das Gebiet zwischen den Grenzübergängen Kerem Shalom und Sufa mit Mörsergranaten und Panzerabwehrwaffen beschossen.
Kerem Shalom ist die Lebensader des Gazastreifens; über den Grenzübergang, der immer wieder Ziel von Terroranschlägen ist, läuft der gesamte Güterverkehr. Der mittlerweile geschlossene Grenzübergang Sufa wurde vor allem von Palästinensern aus dem Gazastreifen genutzt, die in der israelischen Landwirtschaft tätig waren.
Im Schutz des Granatenfeuers gelangten die Terroristen durch einen zuvor gegrabenen Tunnel nach Israel und griffen aus dem Hinterhalt eine Gruppe israelischer Soldaten an. Sie töteten die beiden 20-Jährigen Hanan Barak und Pavel Slutzker und verletzten fünf weitere Soldaten.
Einen der Verletzten, den 19-jährigen Gilad Shalit, entführten sie durch den Tunnel in den Gazastreifen. Dort hielten sie Gilad Shalit fünf Jahre und vier Monate in Isolation als Geisel, um die israelische Regierung zu erpressen und so zahlreiche verurteilte Terroristen aus israelischer Haft freizupressen.
If it quacks like a duck …
Wie erzählt Benjamin Hammer die Geschichte der Geiselnahme? Den Terroranschlag blendet er weitgehend aus. Kein Wort über getötete und verletzte Menschen. Hanan Barak und Pavel Slutzker erwähnt er überhaupt nicht erst. Stattdessen verlegt er die Vorgänge erst einmal aus der realen Welt in die mediale Sphäre:
„Im Oktober 2009 geht ein Video um die Welt. Es zeigt einen jungen Mann, der ein grünes Hemd trägt, das ein eine Uniform erinnert. ‚Ich bin Gilad, der Sohn von Aviva und Noam Schalit. Heute ist Montag, der 14. September 2009. Wie Sie sehen können, halte ich in meinen Händen die heutige Ausgabe der Zeitung »Palästina«, veröffentlicht in Gaza.‘“
Ein „Video“ also ging „um die Welt“. Mehr war da nicht? Das Leiden der Opfer des Verbrechens ist Hammer kaum eine Zeile wert. Über Gilad Shalit schreibt er:
„Ein sehr bleicher, abgemagerter junger Mann erscheint und salutiert: Gilad Schalit, nach fünf Jahren Gefangenschaft.“
Das ist auch schon alles. Das Leid der verzweifelten Angehörigen, die über Jahre von der Hamas im Unklaren darüber gelassen wurden, ob Gilad überhaupt noch lebt, ist Hammer keine Zeile wert. Immer wieder hatte die Familie Gerüchte über Gilads Tod ertragen müssen. Die Tageszeitung Al Hayat hatte einen der Führer der Hamas, Moussa Abu Marzouk, mit den Worten zitiert:
„Shalit mag verwundet worden sein oder auch nicht. Die Sache interessiert uns nicht mehr. An seinem Wohlbefinden sind wir überhaupt nicht interessiert, und wir stellen keinerlei Sonderbehandlung für ihn ab, weil er nicht mehr wert ist als eine Katze.“
Der einzige Abschnitt, in dem Hammer die Familie Gilad Shalits erwähnt, lautet:
„Es folgten: Zähe Verhandlungen. Proteste von Gilad Schalits Familie, die mehr Einsatz von der israelischen Regierung verlangte.“
Wie stellt Hammer die Terroristen der Hamas und der PFLP dar, die Shalit entführten? Als „militante Palästinenser“ (ein Begriff, der auch Steinewerfer oder Menschen mit einer militanten Weltanschauung bezeichnen könnte):
„Militante Palästinenser gelangten durch einen Tunnel nach Israel, griffen einen Armeeposten an und verschleppten den jungen Soldaten in den Gazastreifen.“
Die PFLP wird nicht erwähnt; die Hamas im Zusammenhang mit einem weiteren „Deal“, an dem sie laut einem palästinensischen Politikprofessor „großes Interesse“ habe, um „ihre aktuelle Popularität in der Bevölkerung [zu] erhalten“. Dann zitiert Hammer noch einen israelischen Journalisten, der glaubt,
„dass militante Palästinenser erneut versuchen könnten, einen israelischen Soldaten zu entführen. Weil ein Israeli in den Händen der Hamas – so zynisch es klingt – sehr wertvoll sei.“
Neben den in diesem Zitat angesprochenen „entführen“, ist das oben wiedergegebene Wort „verschleppen“ der einzige von Hammer selbst gegebene, spärliche Hinweis darauf, dass im Fall Gilad Shalit eine Geiselnahme verübt wurde.
Wäre Shalit ein Kriegsgefangener gewesen – es gibt versponnene Leute, die auf solche Ideen kommen können –, hätte das Internationale Rote Kreuz ihn besuchen können müssen; die Kombattanten, die ihn gefangen genommen hätten, hätten die Uniformen der Armee eines kriegführenden Staates getragen und Shalit wäre nicht für eine Erpressung benutzt worden.
Wenn etwas alle Kennzeichen einer Geiselnahme hat, dann ist es wohl eine.
So wurde das in seriösen Zeitungen auch immer genannt. Selbst Amnesty International – eine Organisation, die Israel durchaus feindselig gegenübersteht und mit allerlei BDS-Gruppen zusammenarbeitet – bezeichnete Gilad Shalit als Geisel der Hamas. Aber Benjamin Hammer und die ARD lassen auf die Hamas nichts kommen. Die Terroristen werden zu „Militanten“, die einfach einen guten „Deal“ anstreben.
Täter und Opfer werden unsichtbar gemacht
An anderer Stelle kommt Benjamin Hammer darauf zu sprechen, dass die Hamas die Leichname zweier israelischer Soldaten als Verhandlungsmasse behält und dass sie mutmaßlich zwei israelische Zivilisten in ihrer Gewalt hat.
Hammer meint die beiden getöteten israelischen Soldaten Hadar Goldin und Oron Shaul, deren Leichname die Hamas seit 2014 zurückhält, sowie die beiden Zivilisten Avera Mangistu und Hisham al-Sayed, die psychisch krank sind und an weiteren Krankheiten leiden, die der Behandlung bedürfen.
Mangistu und al-Sayed verschwanden beide im Gazastreifen. Die Hamas sagt, dass sie sich über sie nicht äußern werde – und nicht einmal bestätigen werde, dass sie in ihrer Gewalt sind – ehe Israel nicht eine Reihe verurteilter Terroristen aus der Haft entlassen hat.
Mangistu wird seit 2014 von seiner Familie vermisst, al-Sayed seit 2015. Bei Hammer klingt das so:
„Zehn Jahre nach der Freilassung von Schalit rücken vier Israelis in den Fokus, die sich wohl noch im Gazastreifen befinden: Zwei Zivilisten, die 2014 – wohl aufgrund psychischer Probleme – in den Gazastreifen gingen. Und die Leichname zweier im Gazastreifen getöteter Soldaten.“
Goldin und Shaul sind also einfach bloß „in den Fokus“ gerückt. Mangistu und al-Sayed? Wurden nicht etwa mutmaßlich entführt, sondern „gingen“ nur in den Gazastreifen und „befinden“ sich seither dort.
Wieder verwischt Hammer alle Spuren eines Verbrechens. Dass sein Beitrag unter der Schlagzeile „Gilad Schalit – ein wertvoller Gefangener“ erschienen ist, ist die Krönung seines an Empathielosigkeit schwer zu überbietenden Artikels.
Nicht, dass Journalisten zu Empathie verpflichtet wären; aber wenn tagesschau.de schon aus Anlass des zehnten Jahrestags der Freilassung von Gilad Shalit einen Beitrag veröffentlicht, dann sollte es keiner sein, der den Opfern so ostentativ kalte Missachtung entgegenbringt.
Es sollte keiner sein, der Verbrechen in einer Sprache darstellt, die das Verbrechen zum Verschwinden bringt. Keiner, der die Entführer, Folterer und Mörder zu „militanten Palästinensern“ macht, die einfach bloß „Deals“ verfolgen, aber scheinbar niemandem etwas zu leide tun.
Die Opfer und ihr Leiden werden in dem Beitrag von Benjamin Hammer ebenso unsichtbar wie die Täter und ihre Taten. Selbst dort, wo Hammer von den Taten spricht, verharmlost und verschleiert er sie, vermeidet tunlichst Begriffe, die auf ein Verbrechen hindeutet.
Kein Versehen
Ich fragte Benjamin Hammer auf Twitter, warum er nicht von einer Geiselnahme spricht, sondern ausschließlich von „Gefangenschaft“. Hammer antwortete mit einem Verweis darauf, „welche Formulierungen israelische Medien aller politischen Richtungen benutzen. Dort ist ebenfalls von einer Gefangenschaft die Rede“.
Das ist fadenscheinig. Selbstverständlich ist eine Geiselhaft auch eine Gefangenschaft. Worum es geht, ist, dass Hammer Begriffe wie „Geisel“, „Entführer“ usw. absichtlich vermeidet. Tun israelische Medien das auch?
Nein, selbst Haaretz, jenes Blatt, das immer wieder Sympathien für Hamas-Terroristen äußert, hat bei der Berichterstattung über Gilad Shalit immer wieder von „Terroristen“, „Entführung“, „Kidnapping“ und „Geiselnahme“ gesprochen (siehe hier, hier, hier und hier). Liberale und konservative Medien natürlich sowieso.
Bei seinem Versuch, die Verbrechen der Hamas und der PFLP unsichtbar zu machen, kann sich Benjamin Hammer also auf kein israelisches Vorbild berufen – abgesehen davon, dass: „Die anderen Kinder haben auch mit Stöcken geworfen“ ohnehin eine schwache Entschuldigung ist.
Hammers Replik zeigt indessen deutlich: Dass er die Entführung Gilad Shalits nicht als Entführung oder Geiselnahme bezeichnet hat, war kein Versehen.