Geradezu klammheimlich geht derzeit der Abzug westlicher Truppen über die Bühne. Experten prophezeien, dass die Taliban in ca. sechs Monaten erneut die Macht übernommen haben werden.
Als das Bild damals um die Welt ging, wurde es zum Symbol des Scheiterns der USA in Südostasien: Eine lange Schlange verzweifelter Menschen, die versuchen, noch einen Platz im letzten amerikanischen Hubschrauber zu ergattern, der auf dem Dach der US-Botschaft in der vietnamesischen Hauptstadt Saigon wartet.
Der von der Trump Administration mit den Taliban ausgehandelte Abzug aus Afghanistan bescherte bislang keine derart spektakulären Bilder, schließlich haben die bärtigen Gotteskrieger versprochen, „nur“ gegen afghanische Regierungstruppen zu kämpfen und die westlichen Truppen ungehindert abziehen zu lassen.
So traf dann auch vergangene Woche das letzte Kontingent der Bundesswehr aus Kabul in Deutschland ein. Über den Empfang dort schrieb die FAZ:
„Wenn Impfstoffe oder Masken aus einem Flugzeug rollen, finden Ministerpräsidenten und Minister leicht den Weg zum Flughafen. Als die letzten deutschen Soldaten aus Afghanistan in ihre Heimat zurückkehrten, stand kein Politiker an der Rollbahn.“
Ganz schnell nämlich möchte man den zwanzigjährigen Einsatz vergessen, der ohnehin nie auf breite Zustimmung stieß und guten Gewissens als gescheitert bezeichnet werden kann. Abermilliarden von Euros und US-Dollar wurden in Afghanistan ausgegeben, und was bleibt sind US-Militärfahrzeuge, in denen jetzt die Taliban herumfahren, Bilder, die stark an den Irak und den Islamischen Staat erinnern, dessen Kalifat ebenfalls mit erbeuteten Fahrzeugen und Waffen errichtet wurde.
Vor fast genau zehn Jahren erklärte der damalige Präsident Barack Obama, der Irak sei der „falsche Krieg“ gewesen, deshalb zögen die USA ihre Truppen dort ab, um sich ganz auf den „richtigen“ Krieg, nämlich den in Afghanistan, zu konzentrieren.
Fast absurd mutet es heute an, dass es damals sowohl im Irak als auch in Afghanistan vergleichsweise ruhig war, während in der arabischen Welt Massenproteste das Fundament der überall regierenden Autokratien erschütterten.
Im Irak dauerte es nicht lange und nach dem Abzug übernahm der Iran das Ruder, als Reaktion schlossen sich unzählige Kämpfer aus dem sunnitischen Dreieck dem IS an, und drei Jahre später standen die Jihadisten vor den Toren der irakisch-kurdischen Hauptstadt Arbil, nachdem sie eine Blutspur durch den Nordirak gezogen und einen versuchten Völkermord an den Jesiden begangen hatten.
Die Folgen dürften noch in Erinnerung sein: Erneut sahen sich die USA und unzählige westliche Staaten genötigt, militärisch zu intervenieren. Wären sie einst geblieben, der IS hätte sich nie so ausbreiten können.
Katastrophe für Afghanistan
Sechs Monate geben amerikanische Geheimdienste der korrupten afghanischen Regierung, bis die Taliban die größten Teile Afghanistans erneut kontrollieren, und schon jetzt führen diese sich auf, als sei das „Islamische Emirat“ bereits wieder Realität und kommunizieren siegessicher im Stil von Regierungsvertretern.
Derweil breitet sich in der Bevölkerung Panik aus, die einen bilden Milizen, andere warnen verzweifelt, man dürfe den Taliban keinen Glauben schenken, wenn sie sich in Editorials der New York Times als irgendwie moderat zu verkaufen versuchen:
„‚Dass die Taliban solch eine internationale Plattform erhalten, ist wirklich beunruhigend. Wir leben unter den Taliban, wir haben mit ihnen zu tun und wir wissen, dass sie sich nicht geändert haben‘, sagte Halima Salimi, eine Frauenrechtsaktivistin aus Herat, die für ihre Arbeit regelmäßig Morddrohungen erhält. (…)
‚Sie hatten spezielle Leute, die dafür verantwortlich waren, Frauen zu schlagen, sie benutzten Seile oder Holzstücke, um sie zu schlagen‘, sagte sie. Männer werden geschlagen, wenn sie nicht beten oder während des Ramadan nicht fasten, und es gibt andere kleinliche Einschränkungen wie ein Verbot von Make-up.‘ Es war genau wie das letzte Mal, als sie an der Macht waren [vor 2001].“
Der Abzug wird in einer Katastrophe zumindest für all die Afghaninnen und Afghanen enden, die den Versprechungen des Westens Glauben geschenkt und auf eine andere, bessere Zukunft gehofft hatten. Sie werden, anders lässt es sich nicht ausdrücken, schlicht im Stich gelassen und den islamistischen Wölfen zum Fraß überlassen.
Welche Botschaft dieser Abzug an allerlei Warlords, Diktatoren und andere Islamisten sendet, dürfte ebenfalls klar sein: Die westlichen Truppen lassen sich durch einen brutal geführten asymmetrischen Krieg besiegen und ziehen am Ende mit eingezogenem Schwanz ab. Man muss nur die entsprechende Ausdauer und Skrupellosigkeit haben und über die finanziellen Ressourcen verfügen.
Beides hatten die Taliban zur Genüge und sie können sich nun als Sieger feiern. Würde Osama bin Laden noch leben, sicher schriebe er jetzt einen seiner „Briefe ans amerikanische Volk“, in dem er erklären würde, warum schon immer klar war, dass die Kämpfer Gottes über die Ungläubigen den Sieg davontragen würden.
Die Folgen dieses Abzugs also sind verheerend und weitreichend, umso weniger wird in der Öffentlichkeit oder Politik über die Blamage geredet. Dabei dürfte Europa noch weit mehr betroffen sein als die USA, denn sollte es zu neuen Fluchtbewegungen kommen – und davon kann man getrost ausgehen – werden sich die Menschen nicht über den Atlantik auf den Weg machen, sondern gen Europa, das schon jetzt völlig planlos und überfordert versucht, seine Grenzen möglichst abzuschotten.
Katastrophe für Syrien
Dabei droht nicht nur in Afghanistan eine Katastrophe, sondern auch in Syrien, wo Russland droht, den letzten verbliebenen Grenzübergang in das von Opposition und Türkei kontrollierte Nordwestsyrien für UN-Lieferungen sperren zu lassen.
In für die Weltorganisation selten drastischen Worten schildert der zuständige UN-Vertreter, Mark Cutts, was dies bedeuten würde in einer Lage, die ohnehin schon apokalyptisch anmutet:
„Die Gewalt geht täglich weiter. Krankenhäuser wurden schwer beschädigt, Hilfskonvois angegriffen und zahlreiche Menschen getötet und verletzt, darunter Kinder, Behinderte, humanitäre Helfer und Mediziner.
Mehr als 2,7 Millionen Menschen sind durch den Konflikt vertrieben worden, wo die humanitäre Situation am erschütterndsten ist. Millionen von Menschen sind an die Grenze zur Türkei gedrängt. Die Armut hat sich durch den Konflikt, eine Wirtschaftskrise und COVID-19 verschärft. Die Zahl der Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, ist um 20% auf 3,4 Millionen Menschen gestiegen. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind im letzten Jahr um über 200% gestiegen
Mehr als 1.000 LKWs überqueren jeden Monat die Grenze bei Bab-al Hawa von unserem Transportzentrum in der Türkei. (…) Das Ausmaß der Not im Nordwesten Syriens, wo 90 Prozent der 3,4 Millionen betroffenen Menschen für ihr Überleben dringend humanitäre Hilfe benötigen, macht eine massive grenzüberschreitende Hilfsaktion erforderlich.
Die meisten Vertriebenen befinden sich in Lagern in der Nähe der türkischen Grenze, und da der Krieg immer noch andauert, hat sich die grenzüberschreitende Hilfsaktion als der sicherste und direkteste Weg erwiesen, um die Hilfe zu diesen Menschen zu bringen. Grenzüberschreitende Konvois werden nur möglich sein, wenn die Konfliktparteien dem zustimmen.“
Hinter Russlands Vorschlag, fortan alle Hilfe über Damaskus abzuwickeln, geht es um nichts anderes als den Versuch, möglichst viel Geld für den völlig bankrotten Schützling Assad herauszuschlagen. Sollte Russland sich durchsetzen, steht eine humanitäre Katastrophe bevor, die selbst für die Katastrophengegend Naher Osten beispiellos wäre.
Niemand in den USA oder Europa kommt dabei auf die einzig naheliegende Drohung: Sollte Moskau ein Veto im UN-Sicherheitsrat einlegen, wird die Hilfe eben ohne UNO über die Türkei abgewickelt. 90% der Gelder stammen ohnehin aus der EU und dienen dazu, die Lage vor Ort nicht eskalieren zu lassen, denn dann könnten ja erneut mehr Flüchtlinge kommen.
Um die von den Grenzen fernzuhalten, zahlt man auch der türkischen Regierung unter Recep Tayyip Erdogan Milliarden und drückt alle Augen zu, wenn es dort zu Repression und Menschenrechtsverletzungen kommt. Dass die EU-Außenpolitik kein anderes Ziel mehr verfolgt, hat sich denn inzwischen auch überall in der Region herumgesprochen.
Die Message der EU an die türkische Regierung sei leider sehr simpel, klagt die Frauenrechtlerin Canan Arın: „Hauptsache ihr schickt uns nicht eure Geflüchteten. Was ihr innenpolitisch macht, ist uns egal.”
Europa macht sich erpressbar
Wie es derzeit aussieht, dürfte es, selbst wenn die Türkei mit allerhand Grenzzäunen und Sperranlagen versucht, sich weitere Flüchtlinge vom Hals zu halten, zu neuen massiven Fluchtbewegungen kommen. Eigentlich, da die EU ja keine andere Politik mehr betreibt, sondern eben nur noch Schutzgelder zahlt, läuft die anstehende Entscheidung dann auch auf die Frage hinaus, ob man lieber Putin und Assad oder Erdogan mit den EU-Milliarden finanziert.
Wer sich erpressbar machen lässt, wird in einer Welt, die außerhalb des deutschen Außenministeriums eben nicht eine ist, in der mit Gesprächen und Dialogen Probleme gelöst werden, früher oder später eben erpresst. Und da Europa noch immer das Geld hat, das den anderen, deren Länder chronisch vor dem Bankrott stehen, so dringend fehlt, nutzen sie nachvollziehbarerweise dafür jede Gelegenheit. Derzeit lässt sich mit Flüchtlingen bzw. der Drohung, sie über die nächste Grenze zu jagen, sehr viel Geld machen.
Ob die Taliban das auch verstehen werden? Vielleicht brauchen die das Geld aber gar nicht, denn sie verfügen über gut gefüllte Kriegsassen, finanziert vor allem durch den Verkauf von Drogen, die sie fortan noch einfacher anbauen und verkaufen können.