WDR: Die Kaltherzigkeit der Ertappten

Der WDR und Arte haben den derzeit besten und wichtigsten Film zum Antisemitismus in Europa nach langer Weigerung schließlich ausgestrahlt – und sich dabei massiv und auf bizarre Weise von ihm distanziert. Anders, als die Sender behaupten, hatte das jedoch weder journalistische noch handwerkliche Gründe, sondern handfeste politische. Zur Rekapitulation und Einordnung eines veritablen Skandals.

Am Ende wurde sie dann doch noch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt, die Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ von Joachim Schroeder und Sophie Hafner. Danach hatte es lange Zeit nicht ausgesehen, nachdem der deutsch-französische Sender Arte, für den der Film ursprünglich produziert worden war, eine Ausstrahlung kategorisch abgelehnt hatte – trotz der Abnahme durch die zuständige, zum Westdeutschen Rundfunk gehörende Redakteurin Sabine Rollberg.

Für die Weigerung hatte Arte zunächst offiziell formale Gründe geltend gemacht: Die Dokumentation, so hieß es, entspreche „in wesentlichen Punkten“ nicht dem vereinbarten Projekt – zu wenig Europa, zu viel Naher Osten. Außerdem habe der arabisch-israelische Autor und Psychologe Ahmad Mansour, der die „Ausgewogenheit“ und „Ergebnisoffenheit“ garantieren sollte – eine höchst merkwürdige Vorgabe beim Thema Antisemitismus –, nicht wie ausgemacht mitgewirkt.

Dass diese Argumente nur vorgeschoben waren und es in Wahrheit um die politische Stoßrichtung des Films ging, ließ sich schon früh mehr als nur vermuten, zumal die Autoren glaubwürdig berichtet hatten, dass die Verantwortlichen des Senders ihr Werk für eine „antimuslimische, antiprotestantische und proisraelische Provokation“ hielten, mit der „Öl ins Feuer“ gegossen werde. Beim Vertragspartner WDR sah man gleichwohl – respektive genau deshalb – keinen Handlungsbedarf und stellte sich hinter Arte.

In der Folge gerieten die Sender allmählich unter Druck: Zum einen häuften sich in den Medien die Beiträge von Journalisten und Redakteuren, die den Film zu sehen bekommen hatten und die Ablehnung der Ausstrahlung kritisierten, so etwa René Martens in der taz und Jan Grossarth in der FAZ. Zum anderen erhob sich auch in den Social Media einige Empörung über die störrische Haltung von Arte und WDR. Doch die beiden Anstalten blieben bei ihrem Entschluss, die Dokumentation dem Publikum vorzuenthalten.

Das änderte sich erst, als die Bild-Zeitung sich der Sache annahm, ganzseitig über den Film berichtete und ihn schließlich sogar einfach für 24 Stunden auf ihrer Website online stellte. Ein Akt der digitalen Piraterie, der für den Springer-Konzern ein überschaubares Risiko darstellte. Schließlich konnte er davon ausgehen, dass Arte und der WDR schon aus Imagegründen an einem Rechtsstreit kein Interesse haben würden.

Nun war die Dokumentation im Netz und damit der Kontrolle der beiden TV-Sender entzogen. Der bewusste Leak heizte die Debatte erst richtig an. Zwar sprangen manche Journalisten jetzt Arte zur Seite: Der Film sei einseitig und fehlerhaft, hieß es verschiedentlich, deshalb sei es richtig oder zumindest verständlich, dass seine Ausstrahlung abgelehnt wurde. Doch es gab auch viel Anerkennung für den Schritt des Boulevardblatts, die Dokumentation zu zeigen, und viel Unverständnis für die Bockbeinigkeit der Fernsehanstalten.

Kein „Faktencheck“, sondern Gesinnung

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Beim Versuch, die Diskurshoheit zurückzugewinnen, ergriff die ARD schließlich die Flucht nach vorne und nahm den Film kurzfristig doch noch ins Programm, gewiss nicht zuletzt deshalb, weil es sie störte, dass die Bild-Zeitung sich als Hüterin der Presse- und Meinungsfreiheit präsentierte, während Arte und der WDR sich mit dem – berechtigten – Vorwurf der Zensur herumschlagen mussten.

Die Ausstrahlung am 21. Juni sollte jedoch nicht ohne Auflagen und Einschränkungen erfolgen, ganz im Gegenteil. Zum einen wurde eine Maischberger-Talkshow im Anschluss an den Film anberaumt, deren mehrheitliche Besetzung mit „Israelkritikern“ erwarten ließ, dass der Dokumentation und seinen Machern der mediale Todesstoß verpasst werden sollte. Zum anderen wurden Schroeder und Hafner vom WDR unter Druck gesetzt: Sie sollten innerhalb kurzer Zeit einen umfangreichen Katalog mit Fragen zu ihren Quellen und Belegen beantworten, außerdem erhielten sie zwei Tage vor dem Sendetermin per E-Mail eine Aufforderung des Senders, den Film noch einmal an mehreren Stellen zu überarbeiten. Ansonsten sei es „nicht gut möglich“, ihn „in dieser Fassung auszustrahlen“.

Nachdem die Dokumentation seit Monaten in einer von einer WDR-Redakteurin abgesegneten Fassung vorlag und die Autoren dennoch immer wieder – erfolglos – ihre Bereitschaft signalisiert hatten, verbliebene Differenzen auf dem Gesprächsweg zu klären, hatte es der WDR also plötzlich eilig. Schroeder und Hafner beantworteten die Fragen trotzdem und nahmen auch die geforderten, rechtlich angeblich notwendigen Bearbeitungen vor. Allein, es half nichts: Die ARD zeigte den Film mit zahlreichen Einblendungen und redaktionellen Hinweisen, die eine vehemente Distanzierung von der Dokumentation darstellten.

Parallel dazu veröffentlichte der WDR im Internet einen „Faktencheck“ mit Anmerkungen zu nicht weniger als 29 Stellen im Film. „Betreutes Fernsehen“ nannten sowohl Thomas Eppinger als auch Gideon Böss diese Art von Kommentierung, die man sonst nur rechtsradikalen Werken wie Hitlers „Mein Kampf“ angedeihen lässt. Man tritt dem WDR vermutlich nicht zu nahe, wenn man davon ausgeht, dass diese Art der Präsentation bereits vor den Antworten und Änderungen der Filmemacher feststand.

Wie wenig der „Faktencheck“ seine Bezeichnung verdient und was er eigentlich bezweckt, ließ der WDR höchstselbst auf seinem Twitter-Account deutlich werden. Dort hieß es unumwunden:

„Der Faktencheck soll zur Meinungsbildung berechtigte Gegenthesen anbieten.“

Es geht ihm also um Gesinnung, nicht um Tatsachen, womit er nichts anderes als eine Mogelpackung ist. Entsprechend sieht er aus: Statt Fakten enthält er allerlei politische Wertungen, die den Einschätzungen der Filmemacher widersprechen, und der WDR mag nicht einmal dort Antisemitismus erkennen, wo er offensichtlicher kaum sein könnte. Etwa bei Mahmud Abbas‘ Rede vor dem Europaparlament, bei Richard Wagner oder bei der im Film zu hörenden Behauptung der Linken-Abgeordneten Annette Groth, die Israelis vergifteten das Mittelmeer mit Tausenden Tonnen toxischer Chemikalien.

Oder beim Anschlag auf das Pariser Bataclan im November 2015. Es gebe, schreibt der WDR, „keinerlei Belege dafür“, dass dieser Angriff des IS „antisemitisch motiviert war“. Er könne deshalb „nicht in eine Aufzählung antisemitischer Attentate aufgenommen werden“. Dass das Etablissement Juden gehörte und wegen proisraelischer Veranstaltungen immer wieder bedroht wurde; dass eine salafistische Terrorgruppe, die sich später dem IS anschloss, schon Jahre zuvor kundgetan hatte, einen Anschlag auf das Bataclan zu planen, „weil die Eigentümer Juden sind“; dass der IS generell genauso wenig einen Hehl aus seiner antijüdischen Gesinnung macht wie andere islamistische Organisationen – all das genügt dem Westdeutschen Rundfunk nicht, um in dem Angriff auf die Lokalität und ihre Besucher eine antisemitische Tat zu sehen.

Ob das ein Ausdruck politischer Blindheit ist oder eine ideologische Überzeugung widerspiegelt, ist dabei fast schon nebensächlich.

Sandra Maischberger und die „Israelkritiker“

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An anderen Stellen gibt der „Faktencheck“ schriftliche Einlassungen der im Film kritisierten NGOs und Nahost-Initiativen wieder, die – wenig überraschend und noch weniger überzeugend, weil argumentativ äußerst dürftig – den Vorwurf zurückweisen, zum Antisemitismus beizutragen.

Gleicht man diese Stellungnahmen mit den Antworten von Schroeder und Hafner auf den Fragenkatalog der WDR ab, zeigt sich noch einmal, dass die beiden Autoren gute Gründe dafür hatten, die Arbeit von Organisationen wie Brot für die Welt, B’Tselem und EAPPI in Israel und den palästinensischen Gebieten in einer Dokumentation über Antisemitismus einer Kritik zu unterziehen. Umgekehrt hat es der WDR bisweilen selbst nicht so genau mit den eigenen hohen Ansprüchen genommen, etwa in seinen Ausführungen zur israelischen Organisation NGO Monitor, die den Sender in einem Schreiben deshalb auch deutlich auf seine Fehler und Versäumnisse hingewiesen hat.

Auch der Historiker Michael Wolffsohn wies bei Maischberger überzeugend nach, dass der WDR mit zweierlei Maß misst. Ein Film aus dem Jahr 2012 über Goldman Sachs mit dem verschwörungstheoretischen Titel „Eine Bank lenkt die Welt“ und eine unlängst ausgestrahlte Dokumentation über Geert Wilders, die jeweils mit antisemitischen Stereotypen hantierten, seien schließlich auch nicht mit einem „Faktencheck“ gesendet worden, sagte er in der Talkshow zum WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn. Im Falle des Wilders-Films hatte der Sender den Kritikern nach der Ausstrahlung zunächst sogar entgegnet, es gebe nichts zu beanstanden, sondern lediglich einige „Missverständnisse“, bevor er die Produktion schließlich doch noch widerwillig für seine Mediathek überarbeitete.

Diese Doppelstandards unterstreichen noch einmal, dass politische Motive für den skandalösen Umgang des WDR und von Arte mit der Dokumentation von Joachim Schroeder und Sophie Hafner ausschlaggebend waren. Weil Schönenborn aber partout die Sprachregelung von den formalen und handwerklichen Gründen für die Ablehnung aufrechterhalten wollte, ging er gegen Wolffsohn verdientermaßen unter.

Die Filmautoren hatte man nicht in die Diskussionssendung eingeladen – mit der bizarren Begründung, sie würden dann schließlich über ihren Film reden wollen und nicht über dessen Gegenstand. Dafür redeten dann andere nicht über den Antisemitismus in Europa: Der peinliche Norbert Blüm etwa, der sich von der „Antisemitismuskeule“ bedroht fühlt, der Dokumentation eine „Logik der Rache“ unterstellt und aus dem Nationalsozialismus nicht etwa die Konsequenz zieht, Israel gegen Angriffe zu verteidigen und sich gegen den Hass auf Juden zu positionieren, sondern vielmehr, den jüdischen Staat zu attackieren.

Oder Rolf Verleger, der immer dann zum Gespräch gebeten wird, wenn es einen jüdischen Kronzeugen der Anklage gegen Israel braucht. Auch Gemma Pörzgen saß in der Runde, eine Journalistin, die vor einem Jahrzehnt mal zwei Jahre lang Nahostkorrespondentin für ein paar deutsche Zeitungen war und sich nun durch einen Facebook-Eintrag, in dem sie Schroeders und Hafners Film „propagandistisch“ fand, für Maischberger qualifiziert hatte. Was die drei von sich gaben, böte genügend Stoff für eine Fortsetzung der Dokumentation von Schroeder und Hafner.

Kaltherzig und ohne Empathie

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Die Moderatorin selbst wiederum, Sandra Maischberger, fragte Jörg Schönenborn, ob ein Film über Antisemitismus eigentlich „projüdisch“ sein müsse. Und der Fernsehdirektor antwortete ganz im Ernst, er müsse „promenschlich“ sein, was für ihn offenbar etwas anderes ist. Es sind nicht zuletzt diese Empathielosigkeit und diese Kaltherzigkeit, die nicht nur im öffentlich-rechtlichen Umgang mit der Dokumentation zu finden sind, sondern die Juden in Deutschland und Europa generell entgegenschlagen und dem jüdischen Staat im Besonderen.

Der WDR und Arte – der deutsch-französische Sender zeigte den Film am selben Abend zeitversetzt in einer identischen Fassung – haben zwei Autoren öffentlich desavouiert (und überdies eine verdiente Redakteurin veranlasst, in den Vorruhestand zu gehen), die mit ihrer Arbeit dieser omnipräsenten Empathielosigkeit und Kaltherzigkeit etwas entgegensetzen wollten und dabei völlig zu Recht nicht nur das rechte und neonazistische Spektrum in den Blick genommen haben, sondern auch andere Milieus, in denen der Antisemitismus vor allem in seiner „israelkritischen“ Variante wächst, blüht und gedeiht: die Islamisten, die Linken und Linksliberalen, die Nahost-NGOs, die Rapper.

Mag der Film auch die eine oder andere journalistische Schwäche haben – darum geht es letztlich nicht, dieses Problem hätte sich ohne großen Aufwand rechtzeitig beheben lassen, dazu waren Schroeder und Hafner nachweislich jederzeit bereit. Was Arte und den WDR vielmehr gestört hat, war, dass auch sie mit der Dokumentation gemeint waren. Deshalb die permanenten Warnhinweise und Laufbänder im Film, die es sonst nie gibt, deshalb der unterirdische „Faktencheck“ – den die Direktorin der Berliner Dependance des American Jewish Committee (AJC), Deidre Berger, sehr zu Recht eine „Verharmlosung von Antisemitismus“ genannt hat –, deshalb die Einladung von Blüm, Verleger, Pörzgen und Schönenborn zu Maischberger.

Dass diese vier gegen Wolffsohn und Ahmad Mansour – die einzigen Diskutanten, die beim Thema Antisemitismus tatsächlich einen Expertenstatus beanspruchen können – argumentativ und intellektuell klar unterlegen waren, ist zwar tröstlich. Aber es macht den ideologischen Unsinn, den dieses Quartett in der Sendung von sich gab, nicht wett, und es ändert auch nichts an dem Skandal, den der WDR produziert hat.

Es ist bezeichnend, dass es eine Boulevardzeitung war, die den derzeit besten und wichtigsten Film zum Antisemitismus in ihrer ursprünglich abgenommenen Fassung gezeigt hat, während das öffentlich-rechtliche, also quasi-staatliche Fernsehen nach langer Weigerung, sie überhaupt ins Programm zu nehmen, lediglich bereit war, sie in einer Fassung und auf eine Weise zu präsentieren, die eine Diskreditierung der Autoren und ihrer Arbeit bedeutete – und in Abrede stellte, dass Hass gegen Juden außerhalb der rechten Szene überhaupt existiert.

m jüngsten Antisemitismusbericht des Deutschen Bundestages wird die Zustimmung zur „israelkritischen“ Variante des Antisemitismus in Deutschland auf 40 Prozent beziffert. Schon an dieser – vermutlich immer noch viel zu niedrigen – Zahl wird deutlich, dass das Problem nicht bloß bei Neonazis existiert. Wenn dann aber Ross und Reiter genannt werden, wie es „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ tut, setzt bei jenen, die angesprochen sind oder sich ertappt fühlen dürfen, die große Abwehrreaktion ein, wird der Antisemitismus von ihnen wegdefiniert und geleugnet. Und das sagt über diese ganz erheblich mehr aus als über die Kritiker des Antisemitismus.

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