
„Nach jahrelanger Verzögerung bereitet der Libanon sich auf die ersten landesweiten Parlamentswahlen seit 2009 vor. Dabei werden die langjährigen Führungspersönlichkeiten, die die zerstrittenen Gruppen in dem Land seit Jahrzehnten vertreten, auf dem Prüfstand stehen. Niemand geht davon aus, dass die für den 6. Mai geplanten Parlamentswahlen – ein in der arabischen Welt seltener demokratischer Vorgang – das Kräftegleichgeweicht in dem Land dramatisch verändern werden. Dazu sind die wichtigsten altbekannten Parteien, die allesamt identitätspolitisch agieren (ob nun als Vertreter der Christen, Sunniten, Schiiten oder Drusen) einfach zu fest etabliert. Sie sind alle in der gegenwärtigen Regierung vertreten und betreiben ein extensives System der Patronage. Dennoch erleichtert das neue Wahlgesetz, mit dem eine Form des Verhältniswahlrechts eingeführt wurde, Außenseitern den Gewinn von Sitzen auf Kosten dieser etablierten Parteien, von denen viele nach wie vor von den Warlords des von 1975 bis 1990 währenden Bürgerkriegs geführt werden. (…)
Ein kunterbunt zusammengewürfeltes Bündnis aus reformorientierten und nichtkonfessionellen Gruppen, die ein Ende der Korruption und eine verantwortungsbewusstere Regierungsführung fordern, schnitten 2016 bei den libanesischen Kommunalwahlen überraschend gut ab. Der Ärger über die Unfähigkeit der Regierung, Basisleistungen wie die Müllabfuhr oder eine zuverlässige Stromversorgung zu gewährleisten, kam ihnen zugute. Die Reformer hoffen, dass sie diesen Erfolg im Mai werden replizieren können. Angesichts des neuen Wahlgesetzes, das eine Zersplitterung der politischen Kräfte begünstigt, dürfte die Zukunftsbewegung Hariris, die gegenwärtig die stärkste Fraktion stellt, zu den Hauptverlierern gehören. Am wenigsten dürfte die Hisbollah, eine vom Iran unterstützte schiitische Miliz, betroffen sein, die im südlichen Libanon einen Ministaat betreibt und Wahlexperten zufolge alle größeren Regierungsentscheidungen kontrolliert. In der Vergangenheit führte die Beteiligung der Hisbollah an den Wahlen durchaus zu Konflikten, die zwischen dem von Hariri angeführten prosaudischen und prowestlichen ‚14. März’-Bündnis sowie der Gruppe ‚8. März’ der Hisbollah, anderen schiitischen Parteien und der christlichen Partei des gegenwärtigen libanesischen Präsidenten Michel Aoun ausgefochten wurden.
Diese Gegensätze haben im Laufe des vergangenen Jahres aber abgenommen. Der Hisbollah sind die Siege des Regimes im syrischen Bürgerkrieg zugute gekommen. Unterdessen hat Hariri zum Entsetzen der Saudis eine versöhnlichere Haltung der Gruppe gegenüber eingenommen, die Washington und Riad beide als Terrororganisation einstufen. Hariri sagte jüngst in einem Interview, er stehe einer weiteren Regierungsbeteiligung der Hisbollah nach den Wahlen aufgeschlossen gegenüber. (…) Es wird allgemein davon ausgegangen, dass Hariri, sofern nicht noch irgend etwas Entscheidendes dazwischenkommt, auch weiterhin als Ministerpräsident einer Sammlungsregierung vorstehen wird, auch wenn seine Partei mehrere Sitze verlieren sollte. Die interessante Frage ist, wie viele Oppositionsabgeordnete es im neuen Parlament geben wird, die die etablierte Machtteilung und die Korruption, die Kritikern zufolge aus ihr folgt, infrage stellen können.“ (Yaroslav Trofimov: „In Lebanon’s Long-Delayed Election, Hopes for Fresh Faces“)