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Was Tuvia Tenenbom in einem nordirischen Pub zu hören bekam

Von Stefan Frank

Hitler habe „nicht genug Juden ermordet“, sagte ein Besucher eines Pubs in der nordirischen Stadt Derry kürzlich vor laufender Kamera zu dem amerikanischen Publizisten und Dramatiker Tuvia Tenenbom. Britische und internationale Medien haben darüber berichtet. In einem 70-Sekunden-Video ist zu sehen, wie Tuvia Tenenbom in einem Pub mehrere glatzköpfige ältere Männer befragt, die an einem Tresen sitzen. Im Hintergrund laufen Fernseher. Tenenbom fragt nach dem Brexit. Sind sie dafür, in der EU zu bleiben oder auszutreten? „Bleiben“, sagen zwei der Männer. „Was, wenn es eine harte Grenze gibt? Gibt es dann Scherereien?“, fragt Tenenbom. „Möglich“, sagt ein Mann im blauen Shirt.

Tenenbom spricht die Männer auf Flaggen an, die im Pub hängen. „Ihr habt viele palästinensische Flaggen hier. Warum?“ Die Antwort, von einem Mann im schwarzen Shirt: „Weil wir sie unterstützen.“ „Warum unterstützt ihr die Palästinenser?“, fragt Tenenbom. „Wegen der Juden“, sagt der Mann, und fügt hinzu: „Kindermordendes Dreckspack.“ Tenenbom fragt nach: „Sie sprechen über die Juden?“ Der Mann im blauen Shirt zeigt sein Armband, auf dem steht: „Free Palestine“. Tenenbom fragt ihn, woher er das Armband habe. Nun schaltet sich ein bislang unbeteiligter Mann in orangefarbenem Pullover ein, der neben dem Armbandträger sitzt, und sagt – abwechselnd zu Tenenbom und zur Kamera gewandt – „Hitler hat einen Fehler gemacht: Er hat nicht genug verdammte Juden getötet.“ Der Mann im blauen Shirt lacht einige Sekunden lang. Als er zu Ende gelacht hat, wiederholt der Mann im orangefarbenen Pullover seine Äußerung und fügt hinzu, die Juden seien „die Plage der Erde“.

Über die an der Grenze zur Republik Irland gelegene und mehrheitlich katholische nordirische Stadt Derry (von den Protestanten Londonderry genannt) hatte Mena Watch zuletzt im August 2018 berichtet. Damals gab es dort einen Scheiterhaufen, auf dem die Fahnen Großbritanniens, Nordirlands, Israels und die Namen von der IRA ermordeter Polizisten verbrannt wurden.

Mena Watch wollte von Tenenbom wissen, ob er die Situation als einen extremen Einzelfall bezeichnen würde. „Nein. Das ist bloß ein Fall von Leuten, die bereit sind, zu sagen, was sie denken, und das vor laufender Kamera. Man beachte: Niemand in dem Pub protestiert gegen eine solche Äußerung. Im Gegenteil: Sie genießen jede Sekunde und lachen aus ganzem Herzen.“ Diese Art des Denkens sei weitverbreitet und nicht auf Derry beschränkt. „Überall auf der Insel Irland, ob Süden oder Norden, habe ich wahnhaften Antisemitismus angetroffen. Das gehört zur Mentalität des irischen Volkes: Kaffee ist schwarz, Milch ist weiß, Juden sind schmutzige Tiere. Da gibt es keine Diskussionen, es ist einfach eine Gegebenheit des Lebens. Punkt.“

Gefragt, welche von den vielen Erfahrungen mit Antisemitismus bei seinen Reisen dem Vorfall in Derry am nächsten gekommen sei, antwortet Tenenbom: „Aus ‚literarischem’ Blickwinkel war es wahrscheinlich der Club 88 in Deutschland. Es gibt in beiden Fällen eine Geschichte, die in einen Pub oder Club eingerahmt ist, und der Leser kann sich beide Orte gut vorstellen. Doch in der Wirklichkeit sind Antisemiten letztlich alle gleich und denken mehr oder weniger dasselbe. Sie wollen die Juden tot haben, auf die eine oder die andere Art, durch Kugeln oder die Gaskammer. Wären die Juden nur alle tot, so glauben sie, wären sie selbst reicher, gesünder, besser aussehend und sexier.“

Was Tuvia Tenenbom in einem nordirischen Pub zu hören bekamSteven Jaffe, der Vorsitzende des Vereins Northern Ireland Friends of Israel hatte im August gegenüber Mena Watch geschildert, warum es im Straßenbild von Nordirland palästinensische und israelische Flaggen gibt: „Die Flaggen werden benutzt, um protestantische und katholische Arbeiterviertel voneinander abzugrenzen“, so Jaffe. Beide Seiten sähen im Nahen Osten eine Art Spiegelbild des Risses, der entlang der Konfessionen durch Nordirland geht. „Protestantische Loyalisten wollen, dass Nordirland Teil Großbritanniens bleibt. Sie identifizieren sich mit Israel, weil Israel sich ihrer Sicht nach in einem Kampf gegen den Terrorismus befindet, der dem Kampf gegen die katholisch-republikanische IRA ähnele, die bis zum Karfreitagsabkommen von 1998 den Terrorismus nutzen wollte, um die nordirischen Protestanten in die irische Republik zu zwingen.“

Viele nordirische Protestanten seien bibelgläubige Christen, deren Einstellung zu Israel die gleiche sei wie die evangelikaler Amerikaner. „Sie betrachten die Rückkehr der Juden ins Land Israel als eine Erfüllung biblischer Prophezeiung und ein Anzeichen, dass das zweite Kommen Jesu Christi bevorsteht.“ Auf der anderen Seite gebe es unter den nordirischen Katholiken viele, die sich von Großbritannien abspalten und der Republik Irland anschließen wollen. „Für sie ist Palästina seit den 1970er Jahren, als die IRA und die PLO einander als Verbündete in der Weltrevolution betrachteten, ein Bezugspunkt internationaler Solidarität.“

Tuvia Tenenbom hat dazu eine radikal andere Meinung. „Gott segne Steven Jaffe, der ein netter Jude ist, der inmitten all dieses Hasses lebt und versucht, dem Sinnlosen Sinn zu geben, Ursachen zu finden, wo die Logik längst abhanden gekommen ist, und sich mit einem schönen Handtuch über seinen Augen vor dem Hass abschirmt. Ich lebe nicht dort und muss keine Entschuldigungen finden. Gibt es in Irland oder Nordirland Leute, die keine Antisemiten sind? Selbstverständlich. Es gab auch einige Nazis, die sehr nette Leute waren und zudem außerordentlich romantisch. Doch das ist nie die Frage. Die Frage ist: Wer ist in der Mehrheit? Ein Loyalist in Nordirland zu sein, bedeutet nicht zwingend, auch proisraelisch, projüdisch etc. zu sein. Zur Erinnerung: Die Mehrheit der Bevölkerung in Großbritannien besteht nicht aus bekannten Liebhabern der Juden oder Israel“, so Tenenbom.

Mena Watch berichtet regelmäßig über antisemitische Vorfälle in Großbritannien. Meist geht es dabei um den Judenhass in der Labour-Partei unter ihrem Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Schlagzeilen machte vor zwei Jahren aber auch der Fall von Großbritanniens ehemaliger Ministerin für internationale Entwicklung, Priti Patel: Weil sie sich bei einem Familienurlaub in Israel mit israelischen Politikern, darunter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, getroffen und ein Lazarett besucht hatte, in dem syrische Kriegsflüchtlinge behandelt wurden, musste sie im November 2017 von ihrem Amt zurücktreten – die Anschuldigungen gegen sie reichten von „Bruch des Protokolls“ bis hin zum Vorwurf, eine israelische „Spionin“ zu sein.

Bei einer Umfrage der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) äußerten 29 Prozent der britischen Juden Angst, in den nächsten 12 Monaten Opfer antisemitischer Übergriffe (verbal oder tätlich) zu werden; das waren etwas weniger als in Österreich (33 Prozent) und deutlich weniger als in Deutschland (59 Prozent) und Frankreich (60 Prozent). Ebenfalls 29 Prozent der britischen Juden denken laut derselben Erhebung über eine Auswanderung nach. Die Ergebnisse solcher demoskopischer Studien gehen allerdings weit auseinander: Laut einer anderen Umfrage erwägt fast jeder zweite britische Jude, Großbritannien wegen des Antisemitismus zu verlassen.

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