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Was für Erdogan Terrorismus ist

(Straßen-)Terror für Präsident Erdogan: Demonstration gegen die Verhaftung Ekrem Imamoglus in der türkischen Hauptstadt Ankara
(Straßen-)Terror für Präsident Erdogan: Demonstration gegen die Verhaftung Ekrem Imamoglus in der türkischen Hauptstadt Ankara (Quelle: JNS)

Die »terroristische Organisation«, von der Ekrem Imamoglu vorgeworfen wird, sie zu unterstützen, ist schlicht die Oppositionspartei in der Türkei, die Erdogans Herrschaft ein Ende bereiten will.

Yigal Carmon

»Es gibt keine größere Angst als die desjenigen,
der sein Volk verkauft.« – Nâzım Hikmet

Am 19. März dieses Jahres verhaftete die türkische Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan den seit 2019 amtierenden Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu wegen »Gründung und Leitung einer kriminellen Vereinigung, Unterstützung einer Terrororganisation, Bestechlichkeit, Erpressung, unrechtmäßiger Erfassung personenbezogener Daten und Manipulation einer Ausschreibung«. Zusätzlich wurde er vorübergehend seines Amtes als Bürgermeister enthoben. Am 28. März wurde auch Imamoglus Anwalt verhaftet und später unter der Bedingung der »gerichtlichen Aufsicht« freigelassen.

Imamoglu, der aktuell im Istanbuler Silivri-Gefängnis sitzt, das für die Unterbringung politischer Gefangener berüchtigt ist, ist eine führende Persönlichkeit in der größten Oppositionspartei, der Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei, CHP), der Partei von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der Republik Türkei. Er gilt seit Langem als wahrscheinlicher Kandidat für die Präsidentschaftswahlen, die laut Gesetz vor dem 7. Mai 2028 stattfinden müssen. Kurz nach seiner Verhaftung gewann Imamoglu am 24. März eine CHP-Parteiwahl und wurde zum Präsidentschaftskandidaten erklärt; eine Entscheidung, die am 27. März von der Partei formalisiert wurde.

Repressionen

Die CHP hatte bei den Kommunalwahlen 2019 erhebliche Zugewinne erzielt, aber erst die Kommunalwahlen 2024 sorgten für die wirkliche Überraschung: Zum ersten Mal in den 22 Jahren der Herrschaft von Erdogans Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP) erhielt die CHP mehr Stimmen: 37,8 Prozent stimmten für die CHP gegenüber 35,5 Prozent für die AKP. Die CHP gewann auch die Bürgermeisterämter der Hauptstadt Ankara und der vier weiteren größten Städte des Landes Istanbul, Izmir, Bursa und Antalya.

Es ist daher nicht überraschend, dass es nach der Verhaftung Imamoglus zu Demonstrationen im ganzen Land kam, bei denen Hunderttausende in Dutzenden von Städten auf die Straße gingen. Die Medien berichteten über anhaltende massive Proteste in Adana, Ankara, Antalya, Aydin, Balikesir, Adiyaman, Afyonkarahisar, Amasya, Ardahan, Artvin, Bartin, Bilecik, Bolu, Burdur, Bursa, Canakkale, Denizli, Edirne, Eskisehir, Giresun, Istanbul, Izmir, Kastamonu, Kirikkale, Kırsehir, Kutahya, Manisa, Mersin, Mugla, Sinop, Tekirdag, Usak, Yalova und Zonguldak, wobei die Liste nicht vollständig ist.

CHP-Führer Özgür Özel erklärte, am 29. März hätten 2,2 Millionen Menschen im Istanbuler Stadtteil Maltepe gegen die Verhaftung protestiert, während Medienberichten zufolge die Zahl bei einigen Hunderttausenden lag.

Die Regierung Erdogan hat, wie in solchen Situationen üblich, reagiert: mit Gummigeschossen, wie die Medien berichten, womit türkische Analysten Geschosse aus der von der Polizei eingesetzten FN 303-Revolverpistole meinen; mit dem Einsatz von TOMA-Fahrzeugen, bei denen es sich um in der Türkei hergestellte, gepanzerte Wasserwerfer handelt, die zur Aufstandsbekämpfung entwickelt wurden und durch ihren weit verbreiteten Einsatz bei der Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste 2013 bekannt wurden, und mit Tränengas, von dem die Polizei kürzlich fast eine halbe Million Kanister nachbestellt hat.

Bis zum 27. März wurden 1.876 Personen festgenommen und 260 inhaftiert, darunter 37 wegen ihrer Social-Media-Beiträgen. Der Fernsehsender des führenden Oppositionsmediums Sözcü wurde für zehn Tage mit einem Sendeverbot belegt; türkischer Journalisten, die über die Proteste berichteten, wurden ebenso festgenommen wie der schwedische Journalisten Joakim Medin, als er am 27. März am Flughafen ankam, um über die Proteste zu berichten. Der BBC Turkey-Journalist Mark Lowen wurde mit der Begründung ausgewiesen, er stelle eine »Gefahr für die öffentliche Ordnung« dar. Das Gouverneursamt von Istanbul verbot öffentliche Versammlungen und Proteste bis zum 26. März.

Der Zugang zu YouTube, Instagram, TikTok, Twitter und Telegram wurde ebenso eingeschränkt wie am 27. März eine CHP-Website, die zum Boykott von regierungsnahen Unternehmen aufrief. An X erging die gerichtliche Anordnungen, »über 700 Konten von Nachrichtenorganisationen, Journalisten, politischen Persönlichkeiten, Studenten und anderen« zu schließen. Die Plattform erklärte, sich nicht daran halten zu wollen, obwohl es Meldungen gibt, dass einige X-Konten, die über die Proteste berichteten, geschlossen wurden.

Erdogan oder Imamoglu?

Vielleicht hätte Erdogan mit seinem Schritt gegen Imamoglu – den er bewusst während des Ramadans, als die meisten Türken fasteten und es daher weniger wahrscheinlich erschien, dass sie zu Protesten auf die Straße gehen würden, und vor den Eid-Feierlichkeiten zum Ende des Fastenmonats ansetzte – weniger Reaktionen provoziert, wäre die Verhaftung nicht so offensichtlich politisch motiviert gewesen.

Wollte Erdogan diejenigen aufdecken, die in seiner Regierung terroristische Organisationen unterstützen, dann müsste er nur in den Spiegel schauen. War es unter der Herrschaft Imamoglus, dass Menschen aus aller Welt, die sich der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) anschließen wollten, jahrelang über die Türkei nach Syrien strömten, um Zivilisten abzuschlachten und ihr Kalifat aufzubauen, oder geschah dies unter Erdogan Präsidentschaft? Ist es Imamoglu, der offenbar weiterhin zulässt, dass sich IS-Führer in der türkischen Hauptstadt treffen, um ihre Aktivitäten in Syrien zu koordinieren, oder ist es Erdogan, unter dem dies geschieht?

Und was die Korruption betrifft: War es Imamoglu, der im Dezember 2013 in gedämpftem Ton zu seinem Sohn am Telefon sagte: »Sie führen eine große Korruptionsrazzia durch … was auch immer du in deinem Haus hast, entferne es!«? War es Imamoglu, der in eben diesem Telefonat seinen Sohn, nachdem er beiläufig davon gesprochen hatte, Beträge von zehn, zwanzig und dreißig Millionen Euro verschwinden zu lassen, ermahnte: »Sprich nicht offen darüber!«? War es Imamoglu oder war es der »Reis« [türkisch für Chef und Titel eines Films von Hüdaverdi Yavuz über Erodgan; Anm. Mena-Watch] selbst?

Sind unter Imamoglu zig Millionen Lira aus dem Ministerium für religiöse Angelegenheiten des Landes verschwunden, das Veranstaltungen in Fünf-Sterne-Hotels ausrichtet, Familienmitglieder der obersten Führungsebene in Positionen hebt, für die sie nicht qualifiziert sind, und ein wachsendes Immobilienportfolio unterhält? Oder geschah das unter der Präsidentschaft Erdogans?

Hat Imamoglu extravagante Paläste in Ankara und am Van-See gebaut, während die Zahl der armutsbedingten Selbstmorde im Land zunahm, oder war es Erdogan?

Zusammenfassend lässt sich sagen: Erdogan hat die Verhaftung der führenden Oppositionsfigur wahrscheinlich höchstpersönlich angeordnet – zumindest wäre ein solcher Schritt ohne seine ausdrückliche Zustimmung sehr unwahrscheinlich. Er tat dies unter Bezug auf Korruptions- und Terrorismusvorwürfen, die lächerlich sind, gerade dann, wenn sie von Erdogan kommen. Danach ließ er den Anwalt verhaften, der den verhaftetet Oppositionspolitiker vertritt. Und danach ließ er die Demonstranten verhaften, die sich in einem demokratischen Aufstand gegen eine solche Machtkonsolidierung erheben.

Betrachtet man all dies zusammen, scheint klar zu sein, dass die »terroristische Organisation«, von der Imamoglu vorgeworfen wird, sie zu unterstützen, einfach die Oppositionspartei in der Türkei ist, die Erdogans Herrschaft beenden will. Und das ist für den »Reis« in der Tat Terror.

Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. (Übersetzung von Alexander Gruber.)

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