Von Florian Markl
„Vielleicht hätte eine amerikanisch-britisch-französische Intervention zu einem Desaster geführt. Wäre das geschehen, würden wir heute die Konsequenzen beklagen“, meint Anne Applebaum in ihrer gleichermaßen präzisen wie niederschmetternden Analyse Syriens, drei Jahre nachdem US-Präsident Obama den massiven Einsatz von Giftgas durch das syrische Regime nicht mit einer militärischen Intervention beantwortete. „Aber manchmal“, setzt Applebaum fort, „ist es genauso wichtig, über die Folgen einer Nicht-Intervention zu klagen. Drei Jahre danach wissen wir genau, wozu die Nicht-Intervention geführt hat“.
Bilanz des Nicht-Eingreifens
Die Bilanz ist in der Tat erschreckend: Je nachdem, auf welche Quelle man sich bezieht, beläuft sich die Zahl der Kriegsopfer auf zwischen 155.000 und 400.000 Menschen. (Eran Yashiv vom israelischen Institute for National Security Studies schätzt, dass bislang rund elf Prozent der syrischen Bevölkerung entweder getötet oder verwundet wurden.) Seit der Krieg in Syrien begonnen hat, soll die Lebenserwartung im Land von 80 auf 55 Jahre gesunken sein.
Laut dem UN-Flüchtlingshochkommissar sind fast fünf Millionen Menschen als Flüchtlinge registriert, dazu kommen noch Millionen intern Vertriebener. „Zum Vergleich: Die Flüchtlingskrise, die durch die Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren hervorgerufen wurde, produzierte 2.3 Millionen Flüchtlinge, was damals als die schlimmste Flüchtlingskrise seit den 1940er-Jahren galt. Die syrische Krise ist drei Mal so groß.“
Altehrwürdige Städte, darunter Aleppo und Palmyra, sind irreparabel zerstört, die Hauptstadt Damaskus schwer beschädigt. Im gesamten Land sind Infrastruktureinrichtungen wie Straßen, Brücken, Schulen oder Spitäler zerstört.
Destabilisierende Flüchtlingswelle
Die hohe Zahl an Flüchtlingen hat enorme Auswirkungen auf Aufnahmeländer wie die Türkei, den Libanon, Jordanien, den Irak oder Ägypten und destabilisierende Effekte auf die gesamte Region. Darüber hinaus haben hunderttausende Flüchtlinge auf dem einen oder anderen Weg Europa erreicht. Der mangelnde Wille oder die Unfähigkeit der Europäischen Union, eine Antwort auf diese Krise zu finden, habe Applebaum zufolge die Glaubwürdigkeit der EU untergraben und den Kontinent destabilisiert.
Eine Folge des Flüchtlingsstroms seien die Erfolge rechtsextremer Parteien in Europa, von Österreich über Polen, Ungarn und Deutschland bis nach Frankreich. Die Flüchtlingsfrage soll zum Teil auch für die Entscheidung Großbritanniens verantwortlich sein, die Europäische Union zu verlassen.
Ein trotz allem hochzufriedener Präsident
Gegner einer westlichen Intervention, schließt Applebaum, mögen all das immer noch als die bessere Alternative zu einem militärischen Eingriff und dessen Folgen sehen. „Aber es handelt sich schwerlich um einen herausragenden Erfolg.“
Gänzlich unbeeindruckt von derlei Überlegungen gibt sich übrigens nach wie vor US-Präsident Obama. Während einige seiner engsten Mitstreiter die Syrien-Politik der vergangenen Jahre mittlerweile hinterfragen, erklärte Obama in einem vielbeachteten Artikel in The Atlantic die Entscheidung, nach dem Giftgasmassaker vom August 2013 nicht militärisch eingegriffen zu haben, zu einer „Quelle großer Zufriedenheit“: „Ich bin sehr stolz auf diesen Moment.“