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Warum Erdoğan plötzlich versucht, Europa zu umarmen

Präsident Erdogan mit seinem Koaltionspartner Devlet Bahceli von der rechtsextremen MHP
Präsident Erdogan mit seinem Koaltionspartner Devlet Bahceli von der rechtsextremen MHP (© Imago Images / Depo Photos)

Während Erdoğan mal wieder einen Kurswechsel andeutet und erklärt, die Zukunft der Türkei liege in Europa, meldet sich die Mafia zurück in der Politik, was an die 1990er Jahre denken lässt.

Die türkische Führung benimmt sich in diesen Tagen wie in Panik geratene Getriebene. Nichts will so wirklich funktionieren, politisch wie ökonomisch läuft der Laden schon lange nicht mehr rund. Alles scheint unhaltbar auf den Untergang zuzusteuern. Die ersten Leichtmatrosen haben bereits das sinkende Schiff verlassen, auch die Offiziere ringen kräftig mit sich selbst, ob sie jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt abspringen sollten. Nur dem Kapitän scheint noch Selbstzuversicht geblieben zu sein.

Umso bemühter klingen die jüngsten Verkündigungen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die nach außen als Reformankündigungen verkauft werden. Vergangene Woche deutete Erdoğan überraschend den neuen Weg an. Die Regierung sei bestrebt, die Türkei in eine neue Ära der Wirtschaft und Demokratie zu führen, so Erdoğan. Am Wochenende sodann folgte eine Ansage, die aufhorchen ließ. Erdoğan, der in den vergangenen Monaten keine Gelegenheit ausließ, gegen Europa auszuteilen, sieht die Zukunft der Türkei „nirgendwo anders als in Europa“.

Unklar ist, ob es sich bei diesen Erklärungen eher um Herrschaftskonsolidierung handelt oder um den Versuch, interne Streitigkeiten unter den Koalitionären AKP und MHP auszufechten. Angenommen werden kann allerdings, dass dieses Bündnis zukünftig alles andere als gewiss ist.

Verfallsanzeichen eines Regimes

Anzeichen hierfür gibt es spätestens seit dem Rücktrittsgesuch des türkischen Innenministers Süleyman Soylu, der als der wichtigste Verbindungsmann zur rechtsextremen MHP gilt. Dass der Präsident das Gesuch nicht akzeptierte, begründen Kommentatoren auch damit, dass die MHP dagegen gewesen sei. Seitdem Erdoğans AKP mit der MHP koaliert, ist Ankaras Rhetorik zunehmend aggressiver und nationalistischer geworden, was den Weg für den gegenwärtigen Isolationismus des Landes bereitet hat.

Erdoğan musste sich verstärkt auf seinen Bündnispartner einlassen, und dessen Rhetorik übertrumpfen, als ihm deutlich wurde, dass eine Alleinherrschaft nicht mehr möglich ist. Nachdem er im türkischen Parlament 2015 die absolute Mehrheit verloren hatte, kam zur Mehrheitsbildung nur die MHP in Frage. Doch diese hatte klare Ambitionen, entsprechend kristallisierte sich schnell ein innen- wie außenpolitischer Sog heraus, der in die Untergangsstimmung von heute geführt hat.

Auch unabhängig davon, was sein ganz persönlicher Wille ist, lässt sich Erdoğan von seinem Koalitionspartner treiben. Politisch hat die Hexenjagd gegen mutmaßliche Gülenisten spätestens nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 Maße angenommen, die nur noch an Willkür denken lässt. Auch die Bekämpfung der PKK trägt längst Züge eines Krieges gegen die kurdische Zivilbevölkerung – allen voran gegen deren Partei, die HDP.

Isolationismus

Tendenziell hat sich die türkische Führung in den vergangenen Jahren – seit das Bündnis besteht – international isoliert. Das hat überwiegend mit dem Isolationismus der MHP zu tun, den Erdoğan in Kauf genommen hat, und mit deren er Rhetorik selbst allzu gern kokettiert.

Das konnte sich die Türkei insoweit zunächst leisten, als die prosperierenden Jahre bis 2015 die Staatskasse aufgefüllt hatten und die lockere Geldpolitik der Türkischen Zentralbank Wirtschaftswachstum ermöglichte und ausländisches Investitionskapital anlockte. Doch nun gehen die Devisenreserven aus, allein dieses Jahr wurden weit über 110 Milliarden Dollar ausgegeben, um den Liraverfall aufzuhalten. Vergeblich.

Die aggressive Kriegsrhetorik dient zwar zur Konsolidierung nach innen, trägt aber keinerlei Früchte. Es schreckt die dringend benötigten internationalen Investoren sogar ab. Dies dürfte allmählich auch in Ankara angekommen zu sein.

Knallhartes Kalkül

Nun ist Erdoğans scheinbar neue Rhetorik nicht wirklich neu, sie gehört lediglich zum Repertoire des türkischen Führers, der annimmt, sich immer wieder neu erfinden zu können. Mit solcherlei Ankündigungen, die zur nationalen Mobilmachung dienen, hält er schließlich Hof wie Staat seit 18 Jahren bei Laune, und findet auch immer wieder willige Gehilfen, die ihn tatkräftig unterstützen.

Angetreten als großer Reformator, und als solcher einst international herumgereicht, hat er Staat und Gesellschaft neu geordnet. Nunmehr steht die letzte Etappe bis zum Jahr 2023 an: dass bis dahin ruppige Jahre anstehen, ist kein Geheimnis, sondern fließen in die knallharten Kalkulationen des türkischen Führers mit ein. Wichtigster Katalysator in diesen Tagen ist nicht ein Sinneswandel und die Einsicht in die desaströse türkische Politik, sondern die Furcht vor Konsequenzen. Bidens Wahlsieg scheint Ankara bereits jetzt zu verdeutlichen, dass der türkische Präsident zu den größten Verlierern der Abwahl Trumps gezählt werden kann.

Entsprechend reagiert Ankara, und stellt bereits die Weichen für die türkisch-amerikanischen Beziehungen neu, die unter Biden möglicherweise weit weniger harmonisch als unter Trump sein werden.

Zu dieser Weichenstellung gehört auch ein Personalwechsel. Zunächst entschied sich Erdoğan dafür, den türkischen Zentralbankchef Murat Uysal abzusetzen. Es folgte die Entlassung des Finanzministers und Schwiegersohns Berat Albayrak. Sodann kehrte mit dem ehemaligen türkischen Innenminister Efkan Ala die Schlüsselfigur im Friedensprozess mit der PKK ins Zentralkomitee der AKP zurück und wurde auch gleich noch zum stellvertretenden Vorsitzenden für Außenbeziehungen der Partei ernannt.

Wohin wird sich die Türkei entwickeln?

Die Rückkehr von Ala in die Politik wird insbesondere vom Koalitionspartner MHP nicht gern gesehen. Hinzu kommt, dass Bülent Arınç – Mitbegründer der AKP, ehemaliger Parlamentspräsident und stellvertretender Ministerpräsident –, heute Berater von Erdoğan in einer Fernsehsendung vergangene Woche gesagt hat, wie furchtbar es sei, dass die prominenten kurdischen Politiker Osman Kavala und Selahattin Demirtas bereits seit mehreren Jahren unter fadenscheinigen Gründen und ohne Anklage inhaftiert sind. Trotz internationalem Protest – Demirtas ist wegen seiner Funktion als früherer Parteivorsitzender der HDP inhaftiert – schien Ankara bislang nicht einzulenken.

Der Vorstoß von Arınç, der sogar die Lektüre des von Demirtas in Haft geschriebene „Devran“ empfahl, um zu verstehen, wie sich die Kurden fühlten, löste Spekulationen darüber aus, ob es zu einem Kurswechsel in Ankaras Innenpolitik kommen könnte.

Gebremst und überschattet wurden diese Spekulationen jedoch abrupt, nachdem der türkische Mafiaboss Alaattin Çakıcı den Vorsitzenden der Oppositionspartei CHP Kemal Kilicdaroglu offen bedroht hat. Çakıcı ist ein enger Vertrauter von MHP-Führer Devlet Bahceli und wurde erst im April dieses Jahres nach über 19 Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen. Dieses Vorgehen erinnert an die Einmischung der Unterwelt in die Politik in den 1990er Jahren, als die Kooperation von Staat, Bürokratie und mafiösen Strukturen üblich war.

Das wiederum waren Nachrichten, die Erdoğan gerade jetzt nicht gebrauchen kann: Entsprechend tadelte er Arinc mit den Worten, er nutze die Reformpläne dafür, um „ein Feuer der Zwietracht im Land zu entfachen“. Das nahm Arınç persönlich und verkündete allzu gekränkt am Dienstag auf Twitter, vom Posten als Berater zurückzutreten.

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