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Warum Israels Arbeiterpartei die Wähler davonlaufen

David Ben-Gurion hält eine Rede bei der Grundsteinlegung des Histadrut-Gebäudes 1924 in Jerusalem
David Ben-Gurion hält eine Rede bei der Grundsteinlegung des Histadrut-Gebäudes 1924 in Jerusalem (© Imago Images / UIG)

Obwohl Israel einst als sozialistische Gründung galt, ist die ehemals staatstragende Arbeiterpartei nur noch eine Marginalie.

Elisabeth Lahusen / Ulrich W. Sahm

1948, als David Ben Gurion den jüdischen Staat gründete, war seine Mapai Partei (Mifleget Poalei Erez Jisrael), die sozialistische Arbeiterpartei, die mächtigste politische Kraft in Israel. Sie hatte sich schon in den 1930er Jahren als moderatere Splittergruppe der marxistisch-zionistisch russischen Partei Poalei Tzion gebildet.

Eng verbunden war sie mit der Histadrut, der Mutter aller Gewerkschaften, die schon im Dezember 1920, und damit fast 30 Jahre vor der israelischen Staatsgründung, von David Ben Gurion in Haifa gegründet worden war. Die zionistisch-sozialistische Histadrut war weit mehr als nur eine Gewerkschaft. Es gibt kaum einen Sektor im Leben des jüdischen Staates, der nicht seine Wurzeln in der Histadrut hätte: Die größte Krankenkasse des Landes („Kupat Cholim“), Altenheime, Erholungsheime, kooperative Unternehmen, Kultur- und Medien-Einrichtungen sowie der Sportverband Hapoel, aus dem zahlreiche, später unabhängige Sportvereine hervorgingen.

Die Histadrut gründete auch mit der Hilfe der Zionistischen Weltorganisation WZO ihre eigene Bank, die Bank HaPoalim. Die Bank wurde am 30. November 1921 als The Workers Bank Ltd in Tel Aviv gegründet. Die Histadrut behielt die Kontrolle über die Bank bis in das Jahr 1983.

Israel war eine sozialistische Gründung

Die Histadrut war maßgeblich für Siedlungswirtschaft und Infrastruktur und machte später die Mapai zur herrschenden Kraft in der Bewegung des Zionismus. Aus ihr gingen haSchomer und Hagana hervor, die ersten bewaffneten jüdischen Gruppen, deren Aufgabe darin bestand, die Bevölkerung und den Besitz der jüdischen Siedlungen gegen Angriffe und Raub zu verteidigen.

Das Land hatte den Ruf einer erfolgreichen sozialistischen Gründung. Wer vom Ausland aus nach Israel schaute, sah auf das Leben im Kibbuz. Mapai existierte bis 1968, dann verband sie sich mit zwei anderen Parteien zur neuen israelischen Arbeitspartei Awoda. Bis 1977 gehörten alle Premierminister der Mapai beziehungsweise der Awoda an. Und was heute kaum noch bekannt ist: Lange Zeit regierten Israels Sozialisten gemeinsam mit den religiösen Parteien.

1977 kam die „Wende“ mit dem Wahlsieg des rechtsgerichteten Menachem Begin. Heute wird die ehemalige Arbeitspartei in der Knesset, dem Parlament, nur noch als „Fraktion“ mit lediglich 3 Abgeordneten gelistet: Merav Michaeli, Amir Peretz und Itzik Shmuli.

Was sind die Gründe für den Niedergang jener Partei, die bis vor wenigen Jahren auch eine wichtige Stimme bei der „Sozialistischen Internationale“ (SI) hatte, und die in deutschen Medien dargestellt wird, als würde sie bis heute in der Politik Israels eine Rolle spielen? Abgesehen davon, dass die ehemals mächtige SI selbst nur noch geringen Einfluss hat, seitdem 2013 international über 100 linke Parteien in die durch die deutsche SPD gegründete „Progressive Allianz“ gewechselt waren, stellte sie sich auch noch offen auf die Seite der Boykottbefürworter, die den jüdischen Staat delegitimieren. Weil die Sozialistische Internationale sich der BDS-Kampagne angeschlossen hatte, verließ die israelische Arbeitspartei 2018 den Dachverband.

Das Proletariat macht sich selbstständig

In Westeuropa war der Niedergang des Sozialismus ein Teil der Sozialdemokratisierung der Politik: Das Heer der besitzlosen „Arbeiter“ aus der Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert war ausgestorben. Die Arbeitnehmer der Moderne wollen lieber für ihr eigenes Haus sparen, als sich von linken Intellektuellen das Leben im Kollektiv vorschreiben zu lassen.

In Israel, dessen Gründung stark von der Kibbuz-Bewegung geprägt worden war, wandelte sich Anfang der 1950er Jahre die Stimmung, als rund eine Million vertriebene Juden aus den arabisch/islamischen Ländern im jüdischen Staat Zuflucht suchte. Aus Sicht der israelischen Sozialisten mit ihrem typisch europäischen Hintergrund galten diese Orientalen als „ungebildet“ und „politisch unreif“, ein ärmliches Proletariat ohne Klassenbewusstsein. Eine Integration der Orientalen kam für die Sozialisten nicht in Frage. Sie wurden in der Peripherie angesiedelt, in den Entwicklungsstädten, fern der wichtigen Zentren Tel Aviv, Jerusalem und Haifa.

Die allmächtige sozialistische Arbeitspartei war vor allem in den Gründerjahren für den wirtschaftlichen Aufbau des Staates verantwortlich. Da konnten sie sich nur bedingt um die Bedürfnisse der „Arbeiterklasse“ und der sonstigen Bedürftigen kümmern. Um Geld allein für die Bauwirtschaft zu beschaffen, um Millionen Neubürgern ein Dach über dem Kopf zu schaffen, pflegte sie enge Beziehungen mit den „reichen Leuten“, von denen viele im Norden Tel Avivs wohnten. Gleichzeitig haben sie die große Histadruth geschaffen und die Krankenkassen, die Israel den Ruf verliehen, ein sozialistisch ausgerichteter Staat zu sein.

Aufstieg des Likud

1977 erkannte dann ausgerechnet der rechtsgerichtete Menachem Begin das Wählerpotential in den vernachlässigten Orientalen. Begin war vor der Staatsgründung als Untergrundkämpfer geachtet und gefürchtet. Er hatte zwar anschließend eine zivile politische Laufbahn eingeschlagen, aber 1970 die Regierung verlassen, um gegen die Land-für-Frieden-Politik zu protestieren. 1973 schloss er sich mit anderen Parteien aus dem linken, rechten und religiösen Lager zusammen und gründete als Gegengewicht zu den herrschenden Arbeiterparteien den konservativen Likud-Block.

Als Führer des Likud hielt der alte Kämpfer nun politische Reden mit einem für nüchterne europäische Ohren übertriebenen Pathos. Und immer wieder ließ er Bibelverse oder religiöse Motive in seine Ansprachen einfließen. Genau das traf aber den Geschmack der den ältesten Traditionen tief verbundenen Juden aus der arabischen Welt, die von Marokko über Ägypten bis Irak zum Teil über zweieinhalb Jahrtausende ihren Glauben gepflegt hatten und nun, nach ihrer gewaltsamen Vertreibung aus den arabischen Staaten, in Israel eine Mehrheit bildeten.

Genaue Angaben gibt es nicht, weil das statistische Amt dieses Element, wer Aschkenase oder wer Sepharde ist, nicht abfragt. Gemäß einer Quelle stellen die orientalischen Juden in Israel eine kleine Mehrheit von 52%, dar. Bis zur Masseneinwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion 1990 stellten die Sepharden/Mizrachi-Juden sogar 70% der jüdischen Bevölkerung Israels.

Viele Vertriebene aus den orientalischen Ländern waren Analphabeten und hatten keine Schulbildung, die sie an ihre Kinder hätten weitergeben können. Das hat zur Folge, dass bis heute die überwiegende Mehrheit der Studenten an den Universitäten europäischen Ursprungs ist. Dennoch ist es einigen orientalischen Juden in allen Bereichen des Lebens gelungen, sogar in Spitzenpositionen aufzusteigen, etwa beim Militär.

Da die Sozialisten bzw. die Arbeitspartei sich um diese Menschen nicht wirklich kümmerten, und sie sich bei den anderen traditionellen Parteien nicht vertreten fühlten, stellten sie ein ergiebiges Wählerpotential für die Likud-Partei dar. Unter den orthodoxen Parteien, die allgemein eine deutlich polnisch/europäische Ausrichtung (erkennbar an der Kleidung) haben, wurde die von Rabbi Ovadja Josef gegründete orientalische „Schas-Partei“ ihr Heim. Schas ist ein enger Verbündeter der Likud-Partei. Und so bewirkte Begin bei den Wahlen 1977 die berühmt gewordene „Wende“. Plötzlich hatten die Sozialisten nichts mehr zu bestimmen.

Der Friedensprozess scheitert

1993 gelang den Sozialisten ein Comeback mit Jitzhak Rabin als Ministerpräsident. Der startete mit Israels damaligem Außenminister Schimon Peres den „Friedensprozess“ mit den Palästinensern. Peres, Rabin und Arafat erhielten am 14. Oktober 1994 für diesen Schritt den Friedensnobelpreis.

Dieser sogenannte Osloer Prozess hätte in die von den Europäern befürwortete „Zweistaatenlösung“ münden sollen, endete aber letztlich nur in einer palästinensischen Selbstverwaltung in genau abgesteckten „Autonomiegebieten“ im Gazastreifen und im Westjordanland. Denn „nach Oslo“ kam alles anders als erwartet und erhofft. Anstatt den Israelis die Hand zum Frieden zu reichen, ließ Arafat mit seinen bewaffneten Kämpfern nach der Rückkehr aus dem Exil in Tunis auf israelischen Straßen das Blut fließen.

Palästinensische Selbstmordattentäter sprengten sich an israelischen Straßenkreuzungen und in Bussen in die Luft. Eine Terrorserie erschütterte das Land. Die Enttäuschung der Israelis mündete in wütende und teils gewalttätige Proteste gegen die Regierung Rabins, bis dieser am 4. November 1994, nach einer „Friedensdemonstration“, von einem rechtsradikalen Israeli, Jigal Amir, ermordet wurde.

Das Land trauerte um seinen Ministerpräsidenten. Rabin war zu einer Art „Märtyrer“ geworden, was aber die zunehmende Abneigung gegen die für „Frieden“ mit den Palästinensern verantwortlich zeichnende Arbeitspartei kaum minderte. Auf Rabin folgten im Amt als Regierungschef Schimon Peres und ab Juli 1999 Ehud Barak.

Zwischendurch unterlag Peres im Wahlkampf dem rechten Likud-Parteiführer Benjamin Netanjahu. Entscheidend war damals ein inakzeptabler Spruch von Peres, der nach einem Selbstmordanschlag in einem Jerusalemer Bus von den israelischen Toten als „Opfer für den Frieden“ gesprochen hatte. Typisch für die Stimmung im Volke war daraufhin das Schild eines rechten Demonstranten mit dem Satz: „Wir wollen Krieg. Das kostet weniger Menschenleben als dieser Frieden“.

Die blutige Quittung

Am 6. Juni 1999 schaffte es mit Ehud Barak noch einmal ein „Sozialist“ mit einem Friedensversprechen in das Amt des Ministerpräsidenten. Barak hatte zugesagt, die israelischen Truppen aus der „Sicherheitszone“ im Südlibanon herauszuholen. Im Mai 2000 war es soweit, Barak ließ die Truppen abziehen – sogar entgegen den Wünschen der EU. Denn es war klar, dass dann die Syrer den ganzen Libanon besetzen würden, und der Bürgerkrieg in Beirut erneut ausbrechen würde.

Die blutige Quittung für den Rückzug erhielt Israel vor der eigenen Haustür ab September 2000, sowie 2006 mit einem weiteren Krieg im Libanon.

Der Grund dafür war simpel: Jassir Arafat interpretierte den Rückzug der Israelis aus dem Libanon als Sieg der Hisbollah und Niederlage des jüdischen Staates. Er war der Ansicht, dass Israel die täglichen Toten unter den Besatzungstruppen im Südlibanon nicht ertragen und sich deshalb dort zurückgezogen hätte. Arafat glaubte, dass er mit dem gezielten Mord an Israelis genauso die Besatzung in den sogenannten „Palästinensischen Gebieten“, also in Gaza und im Westjordanland, beenden könnte. Und so betraute er seinen engen Berater Marwan Barghouti mit den Vorbereitungen für einen entsprechenden „Krieg“ gegen Israel.

Ministerpräsident Barak behauptete später, nichts von entsprechenden Vorbereitungen der Palästinenser bemerkt zu haben, weshalb nach weiteren gescheiterten Vermittlungsbemühungen der Amerikaner in „Camp David“ in den USA Ende September 2000 ganz  „überraschend“ die von Arafat befohlene „Al-Aqsa-Intifada“ ausbrach.

Fast täglich sprengten sich palästinensische Selbstmordattentäter in Bussen in Tel Aviv und Haifa, in Supermärkten, Kindergärten und Restaurants. Sie rissen Hunderte in den Tod. Viele Menschen überlebten den Terror schwer verletzt. Das Blutvergießen wurde immer schlimmer. Und der Schuldige war ausgerechnet der Friedensnobelpreisträger: In den Kellern des 2002 eroberten Hauptquartiers Arafats entdeckten die Israelis Quittungen für die Herstellung von Sprengjacken für jene Selbstmordattentäter, die der PLO-Chef selbst unterzeichnet hatte.

Diese Massenmorde in Israel brachen Barak und seiner sozialistischen Arbeitspartei Ende 2000 das politische Genick. Ihre populistischen Friedensutopien hatten zu viele Menschenleben gekostet. In direkten Wahlen wurde der Rechtspolitiker Ariel Sharon direkt ins Regierungsamt gewählt. Nach einer Zwischenzeit mit der liberalen Kadima unter Ehud Olmert ist seit 2009 ununterbrochen Benjamin Netanjahu am Ruder.

Jede Berechtigung verloren

Die Arbeitspartei hat sich nicht mehr erholt und erreichte zuletzt den Einzug ins Parlament mit nur noch 3 Abgeordneten von insgesamt 120 Parlamentariern. Und schließlich, nachdem sie sich dem Bündnis von Benny Gantz angeschlossen hatte, verlor sie nach weiteren internen Machtkämpfen und der Wahl wenig beeindruckender Parteichefs sogar ihren Status als eigenständige Partei.

Abschließend hat sich der klägliche Rest der israelischen Linken praktisch selber ins Abseits gedrängt, indem sie zu guter Letzt auch noch den Weg freigemacht hat für die Empfehlung an den Staatspräsidenten, erneut Benjamin Netanjahu zum nächsten Premierminister zu ernennen. Die gesamte Linke, darunter Arbeitspartei und Benny Gantz, ist mit dem Schlachtruf angetreten, Netanjahu abzulösen (aus politischen und anderen Gründen). In dem Augenblick, wo sie jedoch mit Netanjahu eine Koalition eingegangen sind, haben sie ihr wichtigstes Wahlversprechen gebrochen und damit Glaubwürdigkeit verloren.

Aus Sicht vieler Israelis hat die israelische Linke und so auch die ehrwürdige Arbeitspartei jegliche moralische oder ethische Berechtigung verloren, erneut eine entscheidende Rolle in Israel zu spielen. Ohne eine überzeugende Sicherheitspolitik sind in dem bedrohten jüdischen Staat keine Wahlen zu gewinnen.

Die Linke redet von „Frieden“ mit den Palästinensern, während Hamas und Abbas Terroristen finanzieren und die Zerstörung Israels predigen. Für die Mehrheit der Israelis gilt dieser vermeintliche „Frieden“ mit den Palästinensern nicht als glaubwürdige Sicherheitspolitik. Und auch die Siedlungen gelten als Garant für die Sicherheit. Der Rückzug aus Gaza und die nachfolgenden Raketen der Hamas sind für viele Israelis ein klarer Beweis, dass die von der Arbeitspartei und der Organisation „Gush Shalom“ propagierte Formel „Land für Frieden“ nicht funktioniert.

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