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Wann begann die aktuelle Welle des Antisemitismus? 

Pakistanische Musiker bei einem Erinnerungskonzert an den einem antisemitischen Mord zum Opfer gefallenen US-Journalisten Daniel Pearl
Pakistanische Musiker bei einem Erinnerungskonzert an den einem antisemitischen Mord zum Opfer gefallenen US-Journalisten Daniel Pearl (Quelle: JNS)

Mit der Hinrichtung des Journalisten Daniel Pearl durch Islamisten in Pakistan im Jahr 2002 begann die wiederauflebende Tendenz des Antisemitismus, deren Aggression täglich zunimmt.

Ben Cohen

In den fast dreißig Jahren, in denen ich über den weltweiten Antisemitismus geschrieben und gesprochen habe, wurde ich mehr als einmal gefragt, ob es möglich sei, jenen Zeitpunkt zu bestimmen, an dem die aktuelle Welle des Hasses zum ersten Mal aufbrandete. Diese Frage gewinnt nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023, welches das Thema Antisemitismus weltweit wieder in die Schlagzeilen gebracht hat, zusätzlich an Bedeutung.

Natürlich ist der Antisemitismus nie ganz verschwunden, wie die meisten Juden nur zu gut wissen. Die Jahrzehnte nach dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland, dessen achtzigsten Jahrestag wir am 8. Mai begangen haben, läuteten eine beispiellose Ära der Emanzipation für das jüdische Volk ein.

In den meisten Teilen der Diaspora (mit der Sowjetunion und den arabischen Staaten als eklatanten Ausnahmen) wurden die bürgerlichen und politischen Rechte der jüdischen Gemeinden verankert, gestützt durch ein weit verbreitetes Tabu gegenüber antisemitischer Rhetorik und Aktivitäten, das sich parallel zu den Enthüllungen über die Schrecken der nationalsozialistischen Konzentrationslager herausgebildet hatte. Noch wichtiger war, dass die Juden zum ersten Mal seit zwei Jahrtausenden endlich einen eigenen Staat erhielten, mit Streitkräften, die sich als äußerst fähig erwiesen, die Bedrohungen für die Existenz Israels aus der gesamten Region abzuwehren.

Wir waren, in der Sprache der frühen Theoretiker des Zionismus, »normalisiert« worden – zumindest dachten wir das.

Kurze Flitterwochen

Die Ära dieser Emanzipation war kein goldenes Zeitalter. Die noch immer in der Sowjetunion lebenden Juden wurden verfolgt und durften nicht nach Israel auswandern. 

Das Aufblühen zahlreicher bewaffneter palästinensischer Organisationen nach dem Krieg von 1967 setzte Israelis und Juden in der Diaspora terroristischen Gräueltaten aus, darunter Flugzeugentführungen und bewaffnete Angriffe auf Synagogen. Die Vereinten Nationen, deren Generalversammlung 1975 eine Resolution verabschiedete, die Zionismus mit Rassismus gleichsetzte, wurden zur Hauptschmiede des Hasses gegen Israel. Die kurzen Nachkriegsflitterwochen zwischen den Juden und der politischen Linken endeten etwa zur gleichen Zeit und wurden durch diffamierende Vorwürfe von »Apartheid« und »zionistischem Rassismus« ersetzt, die uns bis heute verfolgen.

Dennoch kam es um die Wende zum 21. Jahrhundert zu einer deutlichen Verschlechterung. Während eines Großteils der 1990er Jahre schien der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern kurz vor einer Lösung zu stehen, symbolisiert durch den Händedruck auf dem Rasen des Weißen Hauses zwischen dem israelischen Premierminister Yitzhak Rabin und PLO-Führer Jassir Arafat. Doch im Jahr 2000, fünf Jahre nach der Ermordung Rabins in Tel Aviv, startete Arafat eine zweite Intifada gegen Israel und die alten Hardliner-Positionen wurden wieder eingenommen. 

Ein Großteil der Welt folgte Arafats Beispiel, wie sich auf der UN-Konferenz gegen Rassismus 2001 in Durban, Südafrika, wenige Tage vor den Anschlägen der al-Qaida in den USA am 11. September zeigte. Dort verunglimpften Nichtregierungsorganisationen und Regierungen gleichermaßen Israel, und jüdische Delegierte wurden mit Beleidigungen (»Hitler hatte Recht«) konfrontiert, die heute nur allzu alltäglich sind.

Parallel zum Zusammenbruch der Beziehungen zwischen Israel und den Palästinensern kehrte der Antisemitismus mit voller Wucht zurück, insbesondere in Europa, angeheizt durch eine unheilige Allianz aus islamistischen Organisationen, die in den verschiedenen muslimischen Gemeinschaften des Kontinents verwurzelt sind, und Teilen der linksradikalen Bewegung, die nach dem 11. September 2001 nach israelischem und amerikanischem Blut lechzten. Es war jedoch Pakistan, wo sich der Mord ereignete, der zum Symbol dieser neuen antisemitischen Realität wurde.

Nur teilweise Gerechtigkeit

Ende Januar 2002 wurde der Wall-Street-Journal-Reporter Daniel Pearl, ein amerikanischer Jude, aus einem Hotel in Karatschi von islamistischen Terroristen entführt. Einige Tage später tauchte im Internet ein Video auf, das seine brutale Hinrichtung festhält. Nachdem er seine letzten Worte gesprochen hatte – »Mein Vater ist Jude, meine Mutter ist Jüdin, ich bin Jude« –, wurde Pearl vor laufender Kamera von seinen Entführern enthauptet.

Meiner Meinung nach war sein schreckliches Schicksal der Beginn jener wiederauflebenden Tendenz, mit der Juden noch immer konfrontiert sind. Ich sage das, weil es sich hier nicht um hässliche Parolen oder Graffiti, eine eingeschlagene Fensterscheibe oder sogar einen ahnungslosen jüdischen Passanten handelte, dem ins Gesicht geschlagen wird. Es war ein kaltblütiger, ideologisch motivierter Mord, der die tödliche Gewalt offenbart hat, die in jedem überzeugten Judenhasser schlummert.

Vergangene Woche wurde Berichten zufolge einer der an der Entführung und Ermordung Pearls Beteiligten bei indischen Luftangriffen auf Pakistan getötet, die als Reaktion auf die Ermordung von 26 Zivilisten durch pakistanisch unterstützte Terroristen in Kaschmir am 26. April durchgeführt wurden. 

Abdul Rauf Azhar war ein Anführer der Terrororganisation Jaish e-Mohammad, der bei der Entführung von Pearl mit Khalid Sheikh Mohammed, einem der Drahtzieher der Anschläge vom 11. September, und Omar Saeed Sheikh, einem pakistanischen Staatsbürger, der in England aufgewachsen war und kurzzeitig an der London School of Economics studiert hatte, zusammengearbeitet hatte. Neben dem Mord an Pearl war Azhar für die Entführung eines indischen Passagierflugzeugs im Jahr 1999 sowie für Anschläge auf das indische Parlament und eine indische Militärbasis in den Jahren 2001 und 2016 verantwortlich.

Die Bedeutung der Eliminierung Azhars zum jetzigen Zeitpunkt, da der Antisemitismus weitaus stärker wütet als zur Zeit der Ermordung Pearls, sollte niemandem entgehen. In den 23 Jahren zwischen dem Tod von Pearl und Azhar haben Juden Beleidigungen und Vandalismus, Übergriffe und sogar Mord erdulden müssen. Vieles davon verlief parallel zu den Höhe- und Tiefpunkten des Konflikts im Nahen Osten, insbesondere dem Zweiten Libanonkrieg 2006und früheren Kriegen im Gazastreifen 2008/09, 2014 und 2021.

Nicht alle antisemitischen Übergriffe und Ausschreitungen stehen in einem so engen Zusammenhang. Einige der schlimmsten Fälle von Hass und Gewalt wie der 2017 verübte Mord an Sarah Halimi, einer älteren jüdischen Frau, die allein in einer Sozialwohnung in Paris lebte, ereigneten sich nicht in einer Zeit besonders offener Konflikte im Nahen Osten. Vielmehr waren sie eine Folge der dämonisierenden Klischees und falschen Behauptungen über Juden, die sich im Laufe dieses Jahrhunderts in unserer Kultur verfestigt haben.

Wir sollten zufrieden sein über die Nachricht, dass Abdul Rauf Azhar tot ist und nicht mehr das Leben anderer Unschuldiger wie Daniel Pearl zerstören kann. Das ist jedoch nicht dasselbe wie vollständige Gerechtigkeit, die eine umfassende Aufarbeitung des Antisemitismus, der unsere Kultur und unsere Zivilisation befleckt hat, durch Politiker, Influencer und Vordenker erfordern würde. Wir wissen mehr oder weniger, wo all dies begonnen hat. Was wir nicht wissen, ist, wo es enden wird.

Ben Cohen ist leitender Analyst bei der Foundation for the Defense of Democracies (FDD). Der in London geborene Journalist war über ein Jahrzehnt lang leitender Korrespondent bei The Algemeiner und ist wöchentlicher Kolumnist von Jewish News Syndicate. (Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)

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