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Wahlen in Israel: Folgt die geschrumpfte Vereinigte Liste dem Weg der Ra’am-Partei?

Ändern Ayman Odeh und Ahmad Tibi ihren bisherigen Kurs, sich einer Regierungsteilnahme strikt zu verweigern?
Ändern Ayman Odeh und Ahmad Tibi ihren bisherigen Kurs, sich einer Regierungsteilnahme strikt zu verweigern? (© Imago Images / UPI Photo)

Im Vorfeld der Knesset-Wahl blickt Israel weiterhin auf die Entwicklung der arabischen Parteien. Sie könnte die künftige Ausrichtung Israels wesentlich beeinflussen.

Mitte September 2022 spielte sich ein parteipolitisches Drama in Israel ab, welches das Potenzial zu gravierenden Veränderungen nicht nur für die arabische Parteipolitik in sich trägt, sondern sogar Einfluss auf die Ausrichtung des jüdischen Staates insgesamt nehmen könnte. Kein Wunder, dass sich ganz Israel intensiv mit den vielseitigen Konstellationsmöglichkeiten beschäftigt.

Schwindende Vereinigte Liste

Bei der Wahl 2020 schrieb die aus vier Parteien bestehende Vereinigte Liste mit fünfzehn errungenen Mandaten israelische Parlamentsgeschichte. Erstmals zur drittstärksten Fraktion in der Knesset avanciert, blickten die Politiker des Bündnisses auf neue Möglichkeiten, ihrer rund 21 Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachenden Minderheit mehr Einfluss zu verschaffen.

Kaum in diese Position gelangt, stand erneut eine Knesset-Wahl an, aus der Mansour Abbas mit seiner Vereinigten Arabischen Liste, die auch unter dem hebräischen Akronym Ra’am bekannt und mit der Islamischen Bewegung des Landes affiliiert ist, ausscherte.

Mit Ra’am wollte Abbas einen neuen Weg beschreiten: Er setzte auf eine arabische Regierungsbeteiligung, um den Bedürfnissen der Minderheit in den politischen Entscheidungsprozessen des jüdischen Staates handfeste Geltung zu verschaffen. Zu einem solchen Schritt waren seine ehemaligen arabischen Bündnispartner Hadash, Ta’al und Balad unter keinen Umständen bereit. In dieser Konstellation – Ra’am einerseits und das Drei-Parteienbündnis Vereinigte Liste andererseits – wollte man erneut zur kommenden Wahl am 1. November antreten. Die Vereinigte Liste schrumpfte jedoch weiter. Dieses Mal war es Balad, die kleinste Partei im Bund, die sich verselbstständigte.

Wenige Mandate, viel Einfluss

Mansour Abbas machte mit Ra’am vor, welche Überraschungen eine demokratische Wahl bescheren und auf welche Weise eine kleine Partei großen Einfluss ausüben kann.

Von den vor allem auf die Wähler der jüdischen Mehrheitsgesellschaft ausgerichteten Wahlprognosen zunächst überhaupt nicht wahrgenommen, ergatterte Ra’am bei der Wahl 2021 vier Mandate. Die Abgeordneten der Vereinigten Liste, die überzeugt waren, dass die arabischen Wähler gegen den Mansour-Abbas-Ansatz sind, sodass sie mit mindestens neun Mandaten zur einzigen arabischen Partei im israelischen Parlament würden, wurden eines Besseren belehrt: Man war nicht nur um eine Partei geschrumpft, sondern die ehemals fünfzehn Mandate schmolzen auf nur noch sechs zusammen.

Insgesamt war es ein massiver Einbruch des rund zwanzig Jahre währenden stetigen Anstiegs der arabischen Knesset-Parteipräsenz, doch Mansour Abbas mit seinen vier Mandaten verstand es, die ihm wegen des uneindeutigen Wahlergebnisses zugefallene Karte auszuspielen: Als Königsmacher der Regierung wurde Ra’am zur ersten arabischen Partei in Israels Geschichte, die sich einer Regierungskoalition tolerierend an die Seite stellte.

Die weiterhin mandatsstärkere Vereinigte Liste wartete nachfolgend mit nicht weniger übergriffiger Kritik an Ra’am wie auch am ideologisch merkwürdig anmutenden Koalitionskonglomerat auf als die rechtskonservative Opposition unter Federführung von Benjamin Netanjahu. Die jüdische Opposition war sich sicher, die Koalition komme einem Verrat am jüdischen Charakter des Staates Israel gleich, die arabische Opposition wähnte durch die arabische Kooperation mit »zionistischen Parteien« unter anderem die arabisch-palästinensischen Ziele als verkauft und verraten.

Ra’am verfolgte unbeirrt die selbstgesetzten Ziele und kann durchaus auf Errungenschaften für die arabischen Wähler blicken, obschon viele Themen lediglich angerissen wurden und weiterhin großer Unmut in der arabisch-israelischen Gemeinschaft herrscht, zum Beispiel wegen Wohnungsnot und Armut, dem geringen Bildungsstandard und dem Integrationsrückstand auf dem Arbeitsmarkt, nicht zu reden von den blutigen Folgen der massenhaft kursierenden illegalen Waffen.

Geteiltes Schicksal?

Das 1995 gegründete Demokratisch-nationale Bündnis Balad gilt als links-säkular, arabisch-national ausgerichtete Partei, die nicht nur für einen Pan-Arabismus, sondern für einen strikt antizionistischen Kurs eintritt. Als kleinste Partei der Vereinigten Liste stellte sie einen der sechs Abgeordneten.

Der nunmehr anvisierte Alleingang, den einige den ideologischen Differenzen, andere dem internen Machtgerangel geschuldet sehen, könnte die Partei an der Sperrklausel scheitern lassen. Da Balad einstweilen vom Zentralen Wahlkomitee disqualifiziert wurde, aber eine Aufhebung der Entscheidung beim Obersten Gerichtshof beantragt hat, ist unklar, wie das weitere Schicksal der Partei aussehen wird.

Sollte Balad zugelassen werden, was Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara bereits andeutete, könnte der in den sozialen Medien angelaufene Unterstützungsfeldzug Wirkung zeigen. Fraglich bleibt, ob das zur Überwindung der Sperrklausel von 3,25 Prozent reichen würde.

Den Restparteien der Vereinigten Liste – der 1977 gegründeten kommunistisch orientierten Partei Hadash, die sich unter dem Vorsitz des Ahmadiyya-Schiiten Ayman Odeh als Demokratische Front für Frieden und Gleichberechtigung unter anderem für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzt, und der 1996 von Ahmed Tibi ins Leben gerufenen säkularen Partei Ta’al, die für einen unabhängigen palästinensischen Staat votiert – , wird ebenfalls ein Ringen mit der Sperrklausel und im besten Fall das Erreichen von vier Mandaten vorhergesagt.

Damit würde das geschrumpfte Bündnis weiter an parlamentarischer Präsenz verlieren und mit Ra’am gleichauf liegen. Doch es gibt auch die Ansicht, dass ausgerechnet der Absprung von Balad die arabischen Wähler zum Urnengang motivieren könnte, sodass Ra’am dann fünf Mandate für sich verbuchen und die verbliebene Vereinigte Liste mühelos den Sprung ins israelische Parlament schaffen würde.

Balad-Absprung

Nach dem Wahlkampfdrama war klar, dass die Schwächung der arabischen Parteienpräsenz nicht zwangsläufig eine Wende zugunsten der rechtskonservativen Opposition bringen muss, sondern vielmehr den Gegenspielern des »Bibi-Blocks« einen entscheidenden Vorteil für die Koalitionsbildung verschaffen könnte. Außer Frage steht auf jeden Fall, dass der Absprung des ideologischen Hardliners Balad der Vereinigten Liste in fast jeder Hinsicht mehr Manövrierspielraum einbringt.

Doch anders als Mansour Abbas ist das Gespann Odeh-Tibi dafür bekannt, kein einziges gutes Wort für den jüdischen Staat übrig zu haben, im Gegenteil: Beide nutzen das in Israel großzügig ausgelegte Recht der freien Meinungsäußerung dank der parlamentarischen Immunität umso ausgiebiger. Sie werden nie leid zu betonen, dass sie Israel als Apartheid-Staat ansehen, dessen Besatzung der Westbank laut Tibi lediglich eine der aus dem israelischen Rassismus resultierenden Folgen ist, während Odeh beispielsweise erst kürzlich Schlagzeilen mit seinem anlässlich von Ramadan aufgezeichneten Aufruf machte, »palästinensische Bürger Israels sollten ihren Dienst an der Waffe quittieren«, um nicht weiter »unser eigenes Volk zu demütigen«.

Seit wenigen Tagen vernimmt man von den beiden arabischen Parlamentariern jedoch völlig neue Töne. Odeh schloss eine »Kooperation mit Lapid und Gantz nicht mehr kategorisch aus«, während Tibi der Presse verriet, es müsse nicht unbedingt ein Ministerposten sein, er aber schon recht gerne dem Wirtschaftsausschuss vorstehen würde. Für einen solchen Posten müsste er allerdings nicht nur koalitionstolerierender Parlamentarier, sondern Mitglied der Regierung sein.

Persönliche Visionen oder echte Kehrtwende?

Man kann von Mansour Abbas halten, was man will, aber eines muss man ihm lassen: Er hält geradlinig an seinem Ansatz fest, nahm dafür heftige Konfrontationen mit dem richtungsweisenden Shura-Rat der Islamischen Bewegung in Kauf, ertrug stoisch Erniedrigungen und sogar Morddrohungen, stellte immer wieder sein Ziel der Verbesserung des arabischen Lebensstandards ins Zentrum und sagte in kritischen Momenten, sollte er es nicht erreichen, die Finger von der Politik zu lassen.

Ganz anders Odeh und Tibi, denen nicht nur die arabische Gemeinschaft, sondern auch die eigene Wählerbasis auf weiten Strecken keineswegs ideologische Gradlinigkeit, sondern vielmehr »Mandatologie« vorwirft, sprich: ihnen nachsagt, an den Knesset-Sitzen festzuhalten, weil ihnen diese Machtposition schmeichelt und das Verfolgen eigener Interessen ermöglicht.

Angesichts der neuen Konstellation wenige Wochen vor der Wahl muss man fraglos in Betracht ziehen, dass die neuen Töne der beiden Parteiführer bloß wahlkampftaktischen Erwägungen geschuldet sein könnten, und nichts über deren ernsthaft angedachte Umsetzung aussagt.

Doch vielleicht sollte man auch folgende Möglichkeit in Erwägung ziehen: Selbst Odeh und Tibi haben erkannt, dass immer mehr arabische Bürger des Staates Israels eine Beteiligung am politischen Entscheidungsprozess befürworten, wodurch sogar sie als notorische Israel-Nörgler nicht mehr darum herumkommen, den Weg von Mahmoud Abbas in der einen oder anderen Form ebenfalls in Betracht zu ziehen.

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