In Israel wird gewählt, und die Stimmung im Land ist entsprechend aufgeheizt. Die Kandidaten suchen mit heiserer Stimme noch ein letztes Mal zu überzeugen, die Prognostiker stellen aufgeregt die allerletzte, aktuelle Umfragen vor und die politischen Kommentatoren übertreffen einander mit spitzfindigen Auslegungen. In Wirklichkeit aber stehen alle vor einem großen Fragezeichen. Denn bei diesen Wahlen ist der Ausgang einfach nicht vorhersehbar.
Letzte Umfragen deuten auf einen Aufschwung für das Pro-Netanjahu-Lager hin. Eine klare Mehrheit zeichnet sich aber für den umstrittenen Premier nicht ab, auch nicht, wenn die ‚Yamina’-Partei von Naftali Bennett seiner Koalition beitreten sollte. Allerdings ist er mit 60 Mandaten dann nur eine Haaresbreite von der ersehnten Zauberzahl 61 entfernt.
Ob es ihm gelingt, dahin zu kommen, ob seine Gegner ihn doch noch bezwingen, oder ob Israel, ob der allgemeiner Unfähigkeit eine Regierung zu bilden, einer fünften Wahl entgegensegelt, ist zu diesem Zeitpunkt unmöglich vorherzusagen. Das liegt gleich an mehreren Gründen.
Unentschlossene
Im Unterschied zu den meisten früheren Wahlen, gibt es diesmal eine sehr große Anzahl unentschlossener Wähler. Jeder zehnte Israeli, so die Meinungsforscher, ist im Endspurt noch immer unschlüssig, wem er seine Stimme schenken wird. Das sind rund 12 Mandate, die noch nicht zugewiesen sind, und die den Wahlausgang entscheiden können.
Wahlbeteiligung
In den letzten drei Durchgängen ist die Wahlbeteiligung stetig gestiegen. Diesmal, so meinen manche, könnte sich der Trend fortsetzten oder sogar verstärken, denn die meisten Israelis, vor allem jene, die sich eine Änderung wünschen, scheinen engagiert wie selten zuvor. So strömten letzten Samstag-Abend eine Rekordanzahl von Demonstranten zur wöchentlichen Kundgebung gegen Netanjahu in die Balfour Straße in Jerusalem.
Trotzdem erwarten die meisten Beobachter diesmal einen Rückgang in der Wahlbeteiligung. Sie nennen drei Gründe.
- Erstens: Wahlüberdruss. Viele Israelis haben das wiederholte Wahlritual satt, vor allem weil es offenbar nicht zu einer schlüssigen Lösung führt.
- Zweitens: Parteivielfalt. Im Unterschied zu vielen anderen, nationalen und internationalen Parlamentswahlen, gibt es diesmal keinen klaren Kampf zwischen zwei konkurrierenden Fraktionen, und einzelne Stimmen, so wird räsoniert, machen keinen großen Unterschied.
- Drittens: Corona. In anderen Ländern ist die Wahlbeteiligung während der Pandemie um 8% bis 15% zurückgegangen. Zwar hat sich die Gesundheitslage in Israel deutlich verbessert, dennoch herrschen strenge Sicherheitsvorkehrungen und Restriktionen, die so manchen wankelmütigen Israeli endgültig zum Passen animieren könnten.
Wichtig ist das alles, weil die Wahlbeteiligung einen direkten Einfluss auf die vier kleinen Parteien haben könnte, die sich mit jeweils geschätzten 4 Mandaten derzeit knapp am Rande der Mindestgrenze für den Einzug in die Knesset befinden. Ist die Wahlbeteiligung gering, geht der voraussichtliche Stimmenanteil dieser vier Kleinparteien hoch und umgekehrt.
4 auf 4
Die vier kleinen Parteien, die hart am Abgrund taumeln, sind:
- ‚Blau-Weiß’ (erstaunlich, denn vor einem Jahr war die Partei noch mit 33 Mandaten mit dabei),
- die linke Fraktion ‚Meretz’,
- ‚Raam’, die Partei von Mansour Abbas, der sich von der ‚Vereinigten arabischen Liste’ getrennt hat,
- und die rechte Fraktion ‚religiöse Zionisten’.
‚Raam’ gilt als Wildcard. Ob überhaupt jemanden, und wenn ja wen, Abbas letztlich unterstützen wird, steht in den Sternen.
Die Absicht der anderen drei „Kleinen“ ist bekannt. ‚Blau-Weiß’ und ‚Meretz’ sind fest im Anti-Netanjahu Lager verankert. Die ‚religiösen Zionisten’ halten ebenso fest zum Premier. Wenn also eine der kleinen Parteien, es nicht in die Knesset schafft, hat das einen entscheidenden Einfluss auf das politische Machtgefüge.
Finale der Power-Player
Wie aber trachten die vier führenden Kontrahenten, Netanjahu (‚Likud’), Lapid (‚Yesh Atid’), Bennett (‚HaJamin HeChadasch’) und Saar (‚Tikva Hadasha’), dieser Tage noch ihre Chancen zu vergrößern. Sie alle suchen unermüdlich Wähler mit persönlichen Auftritten, aber auch mit Darbietungen in den konventionellen und neuen Medien, zu überzeugen.
Die Krönung gab es letzten Samstag-Abend mit den traditionellen Interviews bei dem israelischen „Meet the Press“-Programm. Alle Parteispitzen, ausgenommen Deri von der ultraorthodoxen Schas-Partei und bemerkenswerter Weise Lapid, machten dort ihre Aufwartung. Der beißend-aggressiven Journalistin, Rina Matzliach, konnte aber, so zumindest der Zuseher-Konsens, keiner so richtig standhalten.
In Sachen Wahlbeteiligung gehen alle Kandidaten konform: Sie alle rufen die Bevölkerung mit Nachdruck zur Stimmabgabe auf. Netanyahu, der dafür bekannt ist, dass er gerade auch im letzten Moment Stimmen akquiriert, ist besonders hart am Agitieren. Er bereist das Land, spricht mit den Wählern und überzeugt sie von seiner einzigartigen Fähigkeit, Israel als weltweit ersten Staat nicht nur erfolgreich aus der gesundheitlichen, sondern nun auch aus der wirtschaftlichen Corona-Krise zu befreien.
Dabei passt er aber auf, nicht zu übereifrig darauf zu pochen, Likud zu wählen. Denn ihm ist klar, dass er die religiösen Zionisten nicht gänzlich in den Schatten stellen darf. Deshalb ruft er auch immer wieder auf, entweder für den Likud oder für die religiösen Zionisten zu wählen.
Lapid, der in den letzten Tagen an Stimmen verloren hat, lädt Netanjahu zu einer Last Minute-TV-Debatte ein, und weil dieser nicht darauf eingeht, trommelt er in aller Eile eine Pressekonferenz zusammen und nennt den Premier einen Feigling, der vor einer direkten Konfrontation zurückschreckt.
Bennett und Saar, die beide in den letzten Monaten, die Hälfte ihrer prognostizierten Mandate einbüßen mussten, zeigen sich, nach vorangegangenen Zwisten, jetzt versöhnungswillig und deuten auf einen gangbare Regierungsalternative hin. Bennett betont nun, nachdem sein Corona-Programm nicht mehr so relevant ist, seinen „Singapur-Plan“ zur Ankurbelung der Wirtschaft. Saar stellt sein politische Erfahrung und seine Integrität in den Vordergrund.
Aussicht
Schafft Netanjahu diesmal die 61 Mandate, so bekommt Israel in Kürze eine neue Regierung. Schafft er es nicht, dann kommen Lapid, Bennett und Saar zum Zug. Ob sie gemeinsam eine stabile Regierung bilden können, wird letztlich auch davon abhängen, ob eine fragmentierte, dreigeteilte Amtsperiode Sinn macht, oder ob sie ihre persönlichen Ambitionen hintenanstellen werden können.