„Trotz wiederholter Behauptungen, dass die Wähler durch Premier Netanjahus Verteufelung seiner Gegner manipuliert wurden oder sich durch Wahlkampfgeschenke ausländischer Führer verführen ließen, haben sich die mehr als vier Millionen Israelis, die zur Wahl gegangen sind, von diesen Dingen kaum beeinflussen lassen. Im Gegenteil, sie zeigten die Stabilität ihrer Überzeugungen, indem sie den ideologischen Blöcken treu blieben, mit denen sie sich schon vor dem Wahlkampf identifiziert hatten. (…)
Um die Konstanz der Wählerpräferenzen würdigen zu können, bietet sich als Ausgangspunkt eine Umfrage von Ende Januar 2019 an, die von IDI [dem Israeli Democracy Institute] durchgeführt wurde, noch bevor die Listen der Parteien und Kandidaten fertiggestellt waren. Israelis (Juden und Araber gleichermaßen) wurden gebeten, sich auf einer ideologischen Skala zu positionieren, in der die Zahl 1 eine Position auf der linken Seite, 4 in der Mitte und 7 auf der rechten Seite bedeutete. Unter den Befragten, die eine Meinung äußerten, identifizierten sich 14 Prozent selbst als links (Ziffer 1 oder 2), 8 Prozent als Mitte links (3), 20 Prozent als Mitte (4) und 17 Prozent als Mitte rechts (5). Die größte Gruppe von allen, 41 Prozent, deklarierte sich selbst als der rechten Seite zugehörig (6 oder 7).
IDI wiederholte diese Umfrage Ende Februar, nach einem Monat intensiven Wahlkampfes und am Vorabend der Ankündigung der Entscheidung des Generalstaatsanwalts, den Premierminister in drei verschiedenen Korruptionsfällen anzuklagen. Die Zahlen blieben nahezu unverändert. Vor allem aber erwiesen sich die ideologischen Bindungen, die in diesen Umfragen zum Ausdruck kamen, als hervorragender Indikator für das Wahlergebnis.
Um es einfacher auszudrücken: Die israelischen Wähler tendieren stark nach rechts, und da die überwiegende Mehrheit der Israelis für Parteien stimmt, die ihre ideologischen Präferenzen widerspiegeln, ist es kaum verwunderlich, dass der Likud und seine natürlichen Verbündeten 65 Sitze erhielten, während ihre Gegner insgesamt 55 gewannen.
Das bedeutet nicht, dass der Wahlkampf bedeutungslos war. Die Wähler haben ihre Präferenzen in den Wochen vor dem Wahltag verschoben, aber sie haben dies innerhalb des Blocks getan, dem sie angehörten, was sich auf die relative Größe der einzelnen Parteien, nicht aber auf das wesentliche Ergebnis der Wahl auswirkte. (…)
Während des gesamten Wahlkampfs fand die Hauptauseinandersetzung zwischen Netanjahus Likud und Gantz’ Blau und Weiß statt, zwei Parteien, deren Anhänger sich weitgehend um das Zentrum und die rechte Mitte konzentrierten und die am Ende fast 60 Prozent der Knesset-Sitze gewannen. Und kein Wunder: Die Führer und Unterstützer beider Parteien befürworten die Fortsetzung der Politik, die von einer Reihe von Regierungen unter der Führung von Netanjahu in den vergangenen zehn Jahren verfolgt wurde und vom israelischen Mainstream als weitgehend erfolgreich angesehen wird.
Zu dieser Politik gehören vor allem unnachgiebige Maßnahmen, um zu verhindern, dass der Iran Atomwaffen erhält oder in Syrien ein Bollwerk errichten kann. Beide Parteien glauben auch, dass Israel die Golanhöhen dauerhaft behalten sollte. Beide sind sich einig, dass es Israel derzeit an einem palästinensischen Friedenspartner mangelt, dass es vergebliche bilaterale Verhandlungen oder einseitige Rückzüge vermeiden sollte und dass in jedem zukünftigen Szenario ein vereintes Jerusalem, Siedlungsblöcke und eine defensive Grenze im Jordantal beibehalten werden sollte. Gleichzeitig (und ungeachtet einer widersprechenden Ankündigung Netanjahus kurz vor der Wahl) hat sich keine der Parteien für die Annexion von Teilen des Westjordanlandes ausgesprochen. Sie stimmen auch in den Grundzügen einer wachstumsorientierten, marktorientierten Wirtschaftspolitik überein, die sich als beständig erfolgreich erwiesen hat.
Diese Ansichten spiegeln wiederum den Mainstream-Konsens in Israel wider. Die Bildung dieses Konsenses ist Zeichen einer reifen, vernünftigen Bürgerschaft, die – obwohl sie in einem Land lebt, das für seine ideologische Polarisierung bekannt ist – die Lehren angenommen hat, die ihnen die Erfahrung und die Realität aufgedrängt haben (…)
Wenn der israelische Mainstream in inhaltlichen Fragen nicht gespalten war, was stand dann im Mittelpunkt der Wahl vom 9. April? Viele führende Kommentatoren (…) nannten sie zu Recht ein Referendum über Benjamin Netanjahu nach einem Jahrzehnt seiner Amtszeit als Premierminister. (…) Auf der einen Seite ist Netanjahu in der Außen- und Verteidigungspolitik unter unglaublich schwierigen Bedingungen bemerkenswert erfolgreich gewesen. (…) Und doch ist man sich andererseits auch weitgehend einig – auch unter vielen Menschen, die ich gut kenne, die mit Netanyahu zusammengearbeitet haben und von denen ihn viele noch immer unterstützen –, dass er eine Vielzahl von charakterlichen Fehlern hat und dass diese in den letzten Jahren immer deutlicher und alarmierender geworden sind. Ohne sie aufzuzählen, kann man zusammenfassend sagen, dass er nicht die Art von Person ist, die die meisten Israelis als Kollege, Nachbar, Freund oder Vorbild wollen würden.“ (Daniel Polisar: „The Common Sense of Israel’s Voting Public“)