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Von Babyn Jar nach Mariupol

Gedenkstätte Babyn Jar (© imago images/EST&OST)
Gedenkstätte Babyn Jar (© imago images/EST&OST)

 

Die Tragödie der Ukraine spiegelt sich in der Familiengeschichte der ehemaligen Direktorin des Holocaust-Gedenkzentrums von Babyn Jar wider.

Yana Barinowa

Die Geschichte wollte es, dass die Ukraine zu einem Ort werden musste, an dem heute eines der schmerzlichsten Symbole des Holocausts steht. Babyn Jar, eine Schlucht, die den Tod von zweihunderttausend unschuldigen Menschen sah, die von den Nazis und ihren lokalen Kollaborateuren abgeschlachtet wurden. Es waren der 28. und 29. September 1941, als das Massenmorden in Kiew mit der Erschießung der Juden begann. Mehr als 33.000 Frauen, Kinder und ältere Menschen wurden ermordet, nur weil sie zufällig in dieses Volk hineingeboren worden waren.

Die Vergangenheit bringt uns auf wundersame Weise dazu, uns zu fragen, wer wir sind und in welcher Welt wir leben wollen. Vor 80 Jahren begann die Tragödie von Babyn Jar. Als eine der entsetzlichsten Ereignisse des Zweiten Weltkriegs markierte sie den Beginn der gesamteuropäischen Katastrophe für das jüdische Volk und den Beginn der grauenhaften Besatzungszeit von Kiew. Über Babyn Jar ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Doch während die Jahre vergehen, leben wir weiterhin unter seinem dunklen Schatten. 

Wer sind wir? Jedes Mal, wenn ich in das Gesicht dieser historischen Tragödie blicke, versuche ich diese Frage zu beantworten.  Warum müssen wir uns an die Schlucht von Babyn Jar und Hunderte anderer Schluchten im ganzen Land erinnern?

Babyn Jar

Nachdem ich in den letzten fünf Jahren als Direktorin des Holocaust-Gedenkzentrums Babyn Jar gearbeitet hatte, versuchte ich, eine weitere Frage zu beantworten: »Wer bin ich?« Ich bin Ukrainerin und wurde 1989 geboren, in dem Jahr, das für ganz Europa eine neue Ära einläutete, kurz vor der Ausrufung der Unabhängigkeit der Ukraine. Ich bin jüdischer Abstammung, und während meiner Zeit in Babyn Jar konnte ich nicht umhin, an das fürchterliche Schicksal derjenigen zu denken, die aufgrund ihrer Abstammung ermordet wurden.

Ich habe eine Tochter, die dreizehneinhalb Jahre alt ist, und es ist mir überaus wichtig, welche Werte das Land, in dem sie geboren wurde, einmal haben wird. Unsere künftigen Perspektiven hängen von der Sicht auf unsere Vergangenheit ab. Deshalb war meine Arbeit im Holocaust-Gedenkzentrum Babyn Jar für mich nicht nur die bloße Beteiligung an einem wichtigen Projekt, sondern mein persönlicher Beitrag zur Schaffung einer Ukraine, in der ein Menschenleben und dessen Würde den höchsten Stellenwert haben. Es ging nicht nur darum, eine Zeitkapsel aufzubewahren, die das Bewusstsein für die Ereignisse der Vergangenheit enthält, sondern auch darum, einen kontinuierlichen internationalen Dialog zu führen und die Fragen der Gerechtigkeit, des Respekts und des Verständnisses zwischen den Menschen und Kulturen zu erörtern.

Viele erhoben Bedenken, dass alte Wunden wieder aufgerissen und gegenseitige Anschuldigungen wieder aufleben würden, sei es beim Massaker in Wolhynien und Ostgalizien, beim Holodomor oder bei der Deportation der Krimtataren. Doch Unwissenheit und das Vergessen der Vergangenheit führen unweigerlich zu einer Gegenwart, in der sich die Geschichte wiederholt.  

Babyn Jar muss sprechen. Und dabei muss es offen, ehrlich und objektiv sprechen. Für uns ist es eine Gelegenheit, unsere eigene Schuld einzugestehen und Verantwortung zu übernehmen. Um es mit Hannah Arendt zu sagen: »Wir müssen der Vergangenheit offen in die Augen sehen und die Last bewusst tragen, die uns das vergangene Jahrhundert auferlegt hat.« Neben anderen Gründen waren es vor allem die Angst vor Verunglimpfung und der Unwille, eine ehrliche Bewertung zu ermöglichen und alten Überzeugungen abzuschwören, die der Einrichtung der Gedenkstätte in Babyn Jar im Wege gestanden waren.

Durch Erinnerung zum Wandel

Worte zu wählen, die Gräueltaten lakonisch ausdrücken können, ist ein sehr komplexer und schmerzhafter Prozess. Wie die Geschichte zeigt, wollten die Überlebenden der Vernichtungslager in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg am liebsten jede einzelne Erinnerung an diesen Albtraum niederreißen. Erst nach und nach wurde die Errichtung von Gedenkstätten an den Orten der ehemaligen Vernichtungslager als eine Notwendigkeit zur Heilung der Menschheit nach dem Krieg erkannt.

Ein wirklicher Wandel in der Einstellung der Gesellschaft zur Darstellung der Tragödie fand erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts statt, als so viele europäische Städte zu Trägern der Erinnerung an den Holocaust wurden.

Auch die heutigen Ereignisse in der Ukraine werden in Zukunft eine tiefe Reflexion erfordern. Ich habe den Holodomor oder den Holocaust nicht mit eigenen Augen gesehen, aber meine Tochter und ich haben Bucha und Irpin miterlebt. Das macht es für uns real, das ist unseren Freunden, Verwandten und Kollegen widerfahren – innerhalb nur eines Monats nach der Besetzung.

Die Gegenwart

Meine Aufzeichnungen über den russisch-ukrainischen Krieg sind doppelt so traurig wie die Erinnerungen. Am 1. März 2022 wurde Babyn Jar von einer russischen Rakete getroffen. Mein Herz ist zerbrochen.

Ich blättere weiter in meinen Notizen und sehe den 13. März. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Zahl der ermordeten friedlichen Bürger 2.187 Menschen erreicht und über 400.000 Menschen waren im besetzten Mariupol eingeschlossen worden. Niemand hätte sich je vorstellen können, dass das Morden ein so erschreckendes Ausmaß annehmen würde. Damals im März war noch nicht bekannt, dass das Asow-Stahlwerk vor dem Zusammenbruch stehen würde, oder dass die Bürger zur Deportation gezwungen werden würden. Die Beweise für das Massensterben waren noch nicht vernichtet und die Filtrationslager noch nicht organisiert worden.

Und heute? Die Petrushino-Schlucht (Todesschlucht) am Rande von Taganrog – während des Zweiten Weltkriegs wurden meine vierzehn Verwandten dort erschossen, weil sie Juden waren. Nach der Tragödie zog ein Teil der Familie, dem es zu überleben gelang, nach Mariupol. Meine Großmutter ist vor einem halben Jahr in dieser Stadt gestorben. Mein Vater wurde in Mariupol geboren. Und jetzt ist das Haus, in dem meine Familie gelebt hat, völlig zerstört.

Der Völkermord ist mein persönlicher Schmerz, denn meine Familie hat ihn innerhalb von achtzig Jahren zweimal erlebt.  Für mich ist Mariupol die Stadt, in der meine Familie lebt, seit sie den Schüssen in der Schlucht des Todes entkommen ist. Jetzt ist dies das Gebiet, in dem die russischen Invasoren die Ukrainer ausrotten. Es ist ein Ort des Kummers, der Gewalt, des Schmerzes und des Leids. Mariupol brennt in einer entsetzlichen apokalyptischen Flamme.

Tod, Zerstörung, Vergewaltigung, Fluchtkorridore, Angst, Schmerz, Wut. Es ist schwierig, zwischen den einzelnen Menschen zu unterscheiden, weil alle in einem schrecklichen, höllischen Topf der Gewalt zusammengeschmolzen sind.

Das »Nie wieder Krieg« hat sich wiederholt. Leider hat sich die moderne, zivilisierte Welt nicht dafür entschieden, wachsam zu sein. Die Toleranz gegenüber Aggressionen und die Suche nach diplomatischen oder wirtschaftlichen Vorteilen hatten einen negativen Effekt. Eine Auswirkung, die niemand erwartet oder vorhergesagt hatte. Das Paradoxe an der Situation ist das Fehlen von Logik oder Notwendigkeit für die beispiellose Gewalt der Besatzer. Sie benehmen sich wie wilde Tiere. Im Laufe der Jahre werden Tausende von Seiten über die heutigen Ereignisse geschrieben werden. Es wird analytische Thesen voller Statistiken geben. Aber sowohl jetzt als auch später werden diese Ereignisse für immer eine unaussprechliche Tragödie bleiben. Nur den ukrainischen Herzen ist es zu verdanken, dass selbst in den dunkelsten Ecken des Schmerzes noch Licht zu finden ist.

Schlimmer als der Tod

Es gibt Dinge, die furchtbarer sind als der Tod oder die Hölle. Das sind Gleichgültigkeit und Vergessen. Wir können nicht sicher sein, was die Ukraine noch alles durchmachen muss. In diesem Augenblick findet in unserem Land ein Völkermord statt. Dieser Schmerz ist scheußlich und unheilbar. 

Der Krieg gegen die Ukraine entspricht bei Weitem nicht den internationalen Normen für Kampfhandlungen. Er hat das hässliche Gesicht eines Völkermordes am ukrainischen Volk angenommen. Aber unser Land ist zu einer Keimzelle der Demokratie geworden, es hat die Chance, die menschlichen Werte zu schützen und die Führer der freien Welt zu vereinen. Unsere Herausforderung besteht darin, allen Umbrüchen zu widerstehen und uns für die Zukunft neu aufzustellen. Wir haben die Zukunft verdient. Das haben wir bereits bewiesen. Und wir werden sie mit dem neuen Leitbild der Welt vor Augen betreten, dessen Zentrum und Fundament der Mensch selbst ist.

Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer Kriege. Jeder Krieg ist eine besondere Interaktion zwischen dem Angreifer und dem Verteidiger, in der der Angreifer früher oder später seine Unmenschlichkeit zeigt, sei es in Form von absurder Grausamkeit, Demütigung, Gewalt oder Missbrauch.

Man kann apokalyptisch über das Ende der menschlichen Zivilisation auf der Erde spekulieren. Man kann aber auch mit dem Aufbau einer neuen Zivilisation voller Verantwortung beginnen, in der neue Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur, dem Planeten, der Welt vorherrschen. Und »Verantwortung« ist das Schlüsselwort dazu. Die Verantwortung eines Staates ist ungeheuerlich wichtig, denn es ist einzig und allein seine Aufgabe, einen neuen Rahmen für Wirtschaft, Recht und Lebensgefühl zu schaffen, in dem der Wert des Lebens zum Alpha und Omega jeder politischen Entscheidung wird.

(Yana Barinowa war Direktorin des Holocaust-Gedenkzentrums Babyn Jar, bevor sie nach Österreich fliehen musste. Der Text wurde in Englisch verfasst und von Thomas M. Eppinger übersetzt.)

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