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VERZERRUNG MIT METHODE

Im profil (Nr. 47/2011) berichtet Tessa Szyszkowitz über ihre Besuche bei drei von jenen 477 Palästinensern, die im Oktober im Austausch für die Freilassung des im Gazastreifen in Geiselhaft gehaltenen israelischen Soldaten Gilad Shalit aus israelischer Haft entlassen wurden. In ihrer Geschichte kommen mehrere Mörder vor. Die Art und Weise, in der Szyszkowitz über sie berichtet, ist sehr aufschlussreich.

Der erste der drei interviewten Palästinenser ist Nael Barghouti, der 33 Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht hat. Über den Grund dieser Gefängnisaufenthalte erfahren die Leser nur so viel: „Als 20-jähriger war er 1978 an einem Anschlag beteiligt, bei dem ein israelischer Soldat umkam.“ Tatsächlich, das ist dem Artikel allerdings nicht zu entnehmen, wurde der israelische Soldat von Barghoutis Bruder, der jetzt ebenfalls freigelassen wurde, erstochen. Nael Barghouti gehörte früher der Fatah an, hat während seiner Haft im innerpalästinensischen Machtkampf aber die Seite gewechselt und bekennt sich heute zur Hamas.

Der zweite Interviewte ist ebenfalls ein Hamas-Mann, Khaled Jussuf Saleh, der zu insgesamt drei Mal lebenslänglich verurteilt worden war. Der Grund: „Er hat drei Kollaborateure umgebracht, Palästinenser, die für den israelischen Geheimdienst gearbeitet hatten.“ Außerdem, Szyszkowitz weiter, hatte Saleh die „Kassam-Brigaden mitgegründet, den militärischen Flügel der Hamas-Bewegung.“

Beim dritten Interviewten schließlich handelt es sich um Issmat Mutawer, über den wir erfahren: „Er erschoss zwei Siedler. 2002 wurde er verhaftet und zu zwei lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt.“ Mutawer wurde bereits 1993 Mitglied der Hamas, „weil er gegen die Oslo-Abkommen war: ‚Die Hamas gab unsere Prinzipien nicht auf: Palästina erstreckt sich vom Mittelmeer zum Jordanfluss.‘ Israel existiert in diesem Konzept nicht.“

In Szyszkowitz’ Artikel kommt aber noch ein Mörder vor, der zu den „besonders radikalen Siedlern“ aus Hebron gehörte: „Im Februar 1994 erschoss der rechtsradikale Siedler-Doktor Baruch Goldstein dort [an der Machpela in Hebron, Anm.] im Morgengrauen 29 betende Palästinenser. Von hinten.“

Die Schilderung kann unmöglich der Realität entsprechen: Ein einzelner Mensch kann an einem Ort zu einem Zeitpunkt nicht 29 andere Menschen „von hinten“ erschießen, es sei denn, diese verharren vollkommen unbewegt und reagieren überhaupt nicht, nachdem auf sie das Feuer eröffnet wurde. Wichtiger ist aber, dass das Attentat Goldsteins von Szyszkowitz das einzige ist, das als besonders heimtückisch geschildert wird. Wir erfahren von ihr nichts über die Umstände des von Nael Barghouti durchgeführten Anschlages, „bei dem ein israelischer Soldat umkam.“ Wir erfahren nichts darüber, wie Khaled Jussuf Saleh einst „drei Kollaborateure“ umbrachte, diese „Verräter“, die, wie er betont, „sich gegen mein Volk gewendet“ hatten. Und auch Issmat Mutawers zweifacher Mord bleibt im Ungefähren. Er „buk Brot in der Früh und engagierte sich am Abend in militärischen Operationen“, schreibt Szyszkowitz, so als handle es sich bei der Tötung von zwei Menschen schon allein deshalb um eine „militärische Operation“, weil die Opfer „zwei Siedler“ waren. Einzig Goldsteins Tat wird in einer Art und Weise beschrieben, die sie als besonders abscheulich charakterisiert: Er erschoss 29 Menschen. „Von hinten.“

Womit wir es hier zu tun haben, kann man mit Steven Pinker (1) als einen Fall von Moralisierungslücke bezeichnen, als eine jener Verzerrungen, die aus Gerichtsverfahren bekannt sind: Die Anwälte sowohl der klagenden als auch der beklagten Partei bemühen sich darum, die jeweils eigene Seite gut aussehen zu lassen, während sie die Gegenseite in möglichst schlechtem Licht zu porträtieren versuchen. Dazu gehört beispielsweise aus der Sicht des Opfers eines Gewaltverbrechens, das Täterverhalten als besonders brutal und skrupellos darzustellen, wo doch das Opfer völlig unschuldig war. Die Gegenseite versucht, das genau gegensätzliche Bild zu vermitteln.

So werden hier die Morde der freigelassenen Palästinenser entweder gar nicht explizit benannt – der Soldat, der von Nael Barghoutis Bruder erstochen wurde, „kam ums Leben“ –, oder betont nüchtern und knapp behandelt: Der eine „brachte drei Kollaborateure um“, der andere „erschoss zwei Siedler“. Die grausamen Details dieser Taten bleiben im Dunkeln, weshalb sie relativ abstrakt bleiben. Anders im Falle Goldsteins, des „rechtsradikalen Siedler-Doktors“, bei dem das Detail, dass er seine Opfer „von hinten“ erschoss, mittels der Staccato-satzartigen Formulierung noch extra hervorgehoben wird.

Was aber nicht übersehen werden sollte: Für einen Anwalt ist es völlig normal und gehört sogar zu seinen Aufgaben, die von ihm vertretene Seite möglichst vorteilhaft, die andere hingegen möglichst schlecht dastehen zu lassen und zu diesem Zweck Details zu verschweigen oder hinzuzufügen. Für Journalisten gilt das aber explizit nicht: Sie sind weder Anwälte einer der beiden beteiligten Parteien eines Konfliktes, noch Politaktivisten, die in ihrer Agitation Partei ergreifen. Wenn sie Details beiseitelassen, die eine Konfliktpartei betreffen, durch die Erwähnung von Einzelheiten aber Stimmung gegen die andere Seite machen, so betreiben sie nicht Journalismus, sondern parteiische Propaganda.

Im konkreten Fall wird dies noch dadurch verstärkt, dass Szyszkowitz mit keinem Wort erwähnt, wie die israelische Gesellschaft damals auf das Attentat Goldsteins reagierte: Mit großer Mehrheit waren die Israelis entsetzt und verurteilten die Tat aufs Schärfste. Premierminister Rabin zeigte sich empört und beschämt, dass ein Israeli so habe handeln können. Eine Kommission wurde eingesetzt, um den Vorfall zu untersuchen. Die Kach-Partei, in der Goldstein politisch aktiv war, wurde als Reaktion auf das von ihm verübte Massaker verboten. Im Falle der Anschläge der Palästinenser fand nichts dergleichen statt: Nach den von ihnen begangenen Morden entschuldigte sich kein palästinensischer Führer bei den Israelis, und die palästinensische Gesellschaft zeigte sich, damals wie heute, alles andere als entsetzt über die Bluttaten – ganz im Gegenteil: Die im Oktober freigelassenen Terroristen wurden als Helden in Empfang genommen und gefeiert. Die Hamas, die Terrororganisation, der sie alle drei heute angehören, ist nicht etwa durch die Palästinensische Autonomiebehörde verboten worden, sondern arbeitet gerade daran, sich mit dem Konkurrenten Fatah zu „versöhnen“ und eine gemeinsame Regierung zu bilden. Den Staat Israel erkennt sie nach wie vor nicht an.

Verurteilung eines Verbrechens auf der einen, Jubel über Anschläge auf der anderen Seite, diese doch erhebliche Differenz ist Szyszkowitz keine Erwähnung wert. „Der palästinensische Terror und die israelischen Siedlungen haben das Vertrauen in die jeweils andere Seite unterminiert“, schreibt sie über das Scheitern des Friedensprozesses, ohne innezuhalten und darüber nachzudenken, ob man das Bauen von Wohnungen wirklich so unvermittelt mit dem Ermorden von Menschen auf eine Stufe stellen kann.

All das, darauf sei zum Abschluss noch hingewiesen, wurde nur wenige Tage nach einem Beitrag von Szyszkowitz im Presse-Spectrum veröffentlicht, in dem sie die nachweislich falsche Behauptung verbreitete, die israelische Regierung habe die Anerkennung Israels durch die Palästinenser zur Vorbedingung für die Wiederaufnahme von Friedensgesprächen gemacht. Ob man bei dieser Häufung noch von Zufällen ausgehen kann?

 

(1) Pinker, Steven: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt am Main 2011, S.724f.

 

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