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Versuchte Massenflucht aus Kabul scheiterte

Taliban-Kämpfer auf dem Flughafen von Kabul
Taliban-Kämpfer auf dem Flughafen von Kabul (© Imago Images / ITAR-TASS)

Nach dem Aufkommen von Gerüchten, Flugzeuge würden Freiwillige für die Erdbebenhilfe in die Türkei transportieren, stürmten Hunderte Menschen den Flughafen in der Hoffnung, dem Terrorregime der Taliban zu entkommen.

In Aufnahmen, die an die chaotischen Szenen nach der Machtübernahme durch die Taliban vor achtzehn Monaten erinnern, stürmten am Mittwochabend mehrere tausend Afghanen zum Flughafen der Hauptstadt Kabul, nachdem Gerüchte aufgekommen waren, Flugzeuge würden Freiwillige für die Erdbebenhilfe in die Türkei bringen.

Der Ansturm schien ganz spontan losgebrochen zu sein. So ist auf Videos zu sehen, wie Schwärme von Männern – alle in Straßenkleidung und ohne jegliches Gepäck – in der Dunkelheit schreiend und drängelnd den Boulevard entlanglaufen, der zum Flughafen führt, wo sie von den Sicherheitskräften des Flughafens aufgehalten wurden, die in die Luft schossen und Berichten zufolge mehrere Menschen verletzten. Der Ansturm auf den Flughafen spiegelt die zunehmende Verzweiflung der Bevölkerung in Afghanistan wider, wo eine schwere Wirtschaftskrise dazu geführt hat, dass die Menschen mit allen Mitteln versuchen, das Land zu verlassen – offensichtlich sogar mit Hilfsflügen in Katastrophengebiete. 

Gegen zehn Uhr am Mittwochabend twitterte Regierungssprecher Zabihullah Mujahid, alle Gerüchte über Sonderflüge in die Türkei für »Menschen ohne offizielle Dokumente« seien falsch. »Niemand sollte mit solchen Absichten zum Flughafen gehen und dort die Ruhe und Ordnung stören«, schrieb er. Der Vorfall wurde offenbar durch die Ankündigung des Taliban-Regimes ausgelöst, rund 150.000 Euro für die Erdbebenhilfe in der Türkei und in Syrien zu spenden, was eine höchst ungewöhnliche diplomatische Geste der an Geldmangel leidenden islamistischen Regierung darstellt, die von einem Großteil der Welt geächtet wird und mit massiven finanziellen Sanktionen belegt ist.

In einer offiziellen Erklärung vom Dienstag erklärte das Außenministerium, die Hilfe aus Solidarität mit den »muslimischen Brüdern« in den beiden betroffenen Ländern geschickt zu haben. Außerdem hieß es, »Notfall- und Gesundheitsteams« aus Afghanistan seien »bereit, sich an Rettungsaktionen in der Türkei und in Syrien zu beteiligen«, werden sie darum gebeten. Weitere Einzelheiten wurden nicht genannt. In Kabul schien die intendierte Botschaft der Ankündigung jedoch unterzugehen; stattdessen löste die Taliban-Erklärung das Gerücht aus, Flugzeuge aus der Türkei kämen nach Kabul und böten Afghanen die Möglichkeit, das Land zu verlassen. In der Folge ließen Tausende Afghanen alles stehen und liegen und stürmten zum Flughafen. 

Alle wollen raus

»Wir waren auf dem Weg zu einer Hochzeitsfeier, als ich sah, wie Menschen zum Flughafen rannten. Kurz darauf hörten wir Schüsse, und die Leute sagten, die Taliban würden sie nicht zum Flughafen vorlassen«, zitierte der afghanische Journalist Mohammad Farshad einen Augenzeugen: »Die Leute sagten, die Flieger würden die Menschen in die Türkei bringen. Mein Bruder und ich wollten auch gehen und unser Glück versuchen.«

Der plötzliche Massenfluchtversuch wurde zwar schnell niedergeschlagen, erinnert aber dennoch an jene Panik, welche die Hauptstadt erfasste, als die Taliban im August 2021 in Kabul einmarschierten. In erschütternden Szenen, die damals weltweit ausgestrahlt wurden, war zu sehen, wie Menschen geschlagen und niedergetrampelt wurden, als sie versuchten, den Flughafen zu erreichen, und wie sich manche, die es aufs Rollfeld geschafft hatten, an startende Flugzeuge klammerten und dabei zu Tode kamen.

Seitdem bleibt den Menschen in Kabul nichts anderes übrig, als sich mit der Herrschaft der Taliban abzufinden, welche die Hauptstadt unter einer strengen Sicherheitskontrolle halten. Doch der in den Szenen von Mittwochabend sichtbar gewordene, auf einem Gerücht ohne Grundlage beruhende und keinerlei Erfolgsaussichten versprechende Impuls zu fliehen spiegelt die schrecklichen Bedingungen wider, unter denen viele Afghanen heute leben, wie Pamela Cobstable in der Washington Post festhielt.

Millionen von Menschen sind arbeitslos und gezwungen, zu betteln und den Müll zu durchstöbern, um zu überleben. Internationale Hilfsorganisationen schätzen, dass fast die Hälfte der vierzig Millionen Einwohner in diesem Winter an Hunger leidet und mindestens sechs Millionen von einer »unsicheren Ernährungslage« betroffen sind.

Eine Reihe von den Taliban ergriffenen Repressionsmaßnahmen haben in den vergangenen achtzehn Monaten zusätzlich zu den Existenzängsten der Bevölkerung beigetragen. So hat das Regime Frauen den Besuch von Schulen und Hochschulen sowie die Arbeit für ausländische Wohltätigkeitsorganisationen untersagt. Außerdem hat es für Delikte wie Diebstahl, Ehebruch und andere wieder schwere körperliche Züchtigungen eingeführt. »Dies zeigt die Verletzlichkeit und Verzweiflung derjenigen, die versuchen, vor dem Taliban-Regime zu fliehen«, schrieb Khalid Amiri, ein im Ausland lebender ehemaliger afghanischer Fernsehjournalist, in einem Tweet, nachdem sich die Nachricht von der Massenpanik am Donnerstag verbreitet hatte.

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