Wer meint, dass der Internationale Strafgerichtshof alle Fälle nach denselben Maßstäben behandelt, stellt ihm ein vernichtendes Zeugnis aus.
Seit eine Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) dem Antrag der Anklagebehörde nachgekommen ist und Haftbefehle gegen Israels Premier Benjamin Netanjahu und den mittlerweile ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant ausgestellt hat, ist allerorten zu hören, Recht müsse für alle gleich gelten, niemand dürfe von einem Gericht aufgrund seiner Stellung anders behandelt werden usw. Dass der IStGH israelische Spitzenpolitiker auf die Anklagebank setzen will, sei ein starker Beleg für dessen Objektivität und demonstriere nur, dass niemand vor Strafverfolgung immun sein dürfe, wenn er sich Verbrechen schuldig gemacht hat.
Von wegen normal
Mit dieser Sichtweise wird die Sache allerdings auf den Kopf gestellt, denn fast nichts an diesem Verfahren ist normal, kaum etwas entspricht der sonst üblichen Vorgangsweise des Gerichts und kein anderer Fall würde so weit fortschreiten, der auf derart absurden Vorwürfen basiert. Statt um objektive und nüchterne Anwendung internationalen Rechts handelt es sich bei den Haftbefehlen um den bisherigen Tiefpunkt eines Verfahrens, das einzig und allein vom politischen Willen bestimmt ist, Israel bzw. dessen höchste Vertreter vor den Kadi zu zerren.
Vergegenwärtigen wir uns, was gerade geschehen ist: Um überhaupt gegen Angehörige eines Staates vorgehen zu können, über den der IStGH eigentlich keine Jurisdiktion hat, weil er das Römische Statut nicht ratifiziert hat, musste zuerst die Fiktion für real erklärt werden, es gebe einen Staat namens »Palästina«, auf dessen nirgends definierten »Staatsgebiet« ungeheuerliche Verbrechen begangen worden seien.
Dabei zeichnete die Anklagebehörde ein durch und durch de-realisierendes Bild des Konflikts, in dem im Gazastreifen nicht etwa ein bereits seit 14 Monaten andauernder Krieg zwischen Israel und der sich hinter der Zivilbevölkerung versteckenden Terrororganisation Hamas stattfinde, sondern im Grunde ein mutwilliger, gezielter Feldzug Israels gegen diese zu lebenden Schutzschilden gemachten Zivilbevölkerung: Mittels einer (in Wirklichkeit nie existierenden) Blockade des Gazastreifens hätten die Angeklagten absichtlich eine (in der Realität nie so eingetretene) Hungersnot verursacht und damit auf verbrecherische Art und Weise Hunger zu einer Kriegswaffe gemacht. All das, in den Worten des Gerichts, als »Teil eines weit verbreiteten und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen«, bei dem »die Bevölkerung aus politischen und/oder nationalen Gründen gezielt verfolgt wurde«.
Jeder einzelne Bestandteil dieses Bildes basiert auf Unwahrheiten, Unvollständigkeiten oder glatter Lügen. Der Kontext eines Kriegs gegen eine die eigene Bevölkerung missbrauchende Terrororganisation, der aus Sicht zahlreicher internationaler Militärexperten unter Einhaltung des humanitären Völkerrechts im Großen und Ganzen so gut geführt wird, wie das einer Armee unter solchen Umstanden eben möglich ist, wird ausgeblendet, um dem israelischen Handeln Absichten zu unterstellen, die mit der Realität nichts zu tun haben.
Wer meint, dieses absurde Theater mit all seinen bizarren PR-Stunts – erinnert sei nur an die präzedenzlose Bekanntgabe des Antrags auf Haftbefehle per öffentlicher Videobotschaft durch Chefankläger Karim Khan im vergangenen Mai – entspreche ganz den üblichen Verfahrensweisen und Standards des IStGH, dem ist wohl nicht bewusst, was für ein vernichtendes Zeugnis er dem Gerichtshof damit ausstellt.
Wink an den IGH
Im internationalen Lawfare ist Israel bekanntlich noch mit einem zweiten kafkaesken Verfahren konfrontiert: der südafrikanischen Klage beim Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen angeblicher Verstöße Israels gegen die sogenannte Völkermordkonvention, die dem jüdischen Staat nicht weniger vorwirft, als im Gazastreifen einen »Genozid« zu begehen.
Diesbezüglich ist ein Punkt höchst interessant, der in den zahlreichen Stellungnahmen zur Ausstellung von Haftbefehlen gegen Netanjahu und Gallant völlig übergangen wurde. Chefankläger Khan wollte unter anderem auch »Ausrottung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit« angeklagt sehen. Definiert ist dieser Tatbestand in Art. 7(2)(b) des Römischen Status, in dem es heißt, »Ausrottung« umfasse »die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen – unter anderem das Vorenthalten des Zugangs zu Nahrungsmitteln und Medikamenten –, die geeignet sind, die Vernichtung eines Teils der Bevölkerung herbeizuführen«.
Dazu schrieb die Vorverfahrenskammer in ihrer Bekanntgabe der Ausstellung der Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant am 21. November: »Auf der Grundlage des von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Materials (…) konnte die Kammer nicht feststellen, dass alle Tatbestandsmerkmale des Verbrechens gegen die Menschlichkeit der Ausrottung erfüllt waren.«
Die Palästinenser im Gazastreifen Lebensbedingungen zu unterwerfen, die die »Vernichtung eines Teils der Bevölkerung« zur Absicht hätten, ist freilich auch wesentlicher Bestandteil der südafrikanischen Völkermordklage gegen Israel am IGH. Obwohl der Strafgerichtshof bereit war, auf Basis absurder Anschuldigungen Haftbefehle zu verhängen, war selbst ihm der Vorwurf der »Ausrottung« auf Basis des von Khan zusammengetragenen Materials zu jenseitig.
Das sollte den Richtern am IGH zu denken geben: Es ist nur schwer vorstellbar, wie sie argumentieren sollten, dass sie dasselbe Verhalten, das für den IStGH nicht den Vorwurf des Verbrechens der »Ausrottung« begründen kann, als ausreichend sehen, um den Tatbestand des Völkermords zu erfüllen.