Während der zweijährigen Gefangenschaft seines Sohnes im Gazastreifen wurde dessen achtzigjähriger Vater zum unerschütterlichen Bollwerk inmitten aller Verzweiflung.
Karni Eldad
Als Omri Miran am 13. Oktober nach mehr als zwei Jahren Gefangenschaft nach Israel zurückkehrte, wurde seiner Familie geraten, die Wiedervereinigung mit ihm in langsamen Schritten anzugehen. Omris Frau, Lishay Miran-Lavi, war die Erste, die ihn sehen durfte, aber schon eine Minute später fragte er auch nach seinem Vater lief ihm und im Flur des Spitals entgegen, wo dieser wartete, nachdem er seiner Schwiegertochter den Vortritt gelassen hatte.
»Er rannte auf mich zu. Wir standen da und umarmten uns lange. In diesen Momenten herrschte Stille. Ich konnte nur unsere beiden Herzschläge hören. Dann sagte ich ihm, dass ich ihn liebe und ihn schrecklich vermisst habe, und er sagte: ›Papa, du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe.‹«
Der achtzigjährige Dani Miran sitzt in der Cafeteria von Beit Ariela, der zentralen öffentlichen Bibliothek in Tel Aviv mit Blick auf den »Platz der Geiseln«, und wischt sich die Tränen aus den Augen. Als starker, warmherziger und witziger Mann war er während der gesamten Kampagne zur Befreiung der Geiseln eine seltene Stimme der Ruhe und Vernunft gewesen. Das Interview mit ihm wird immer wieder unterbrochen durch Telefonanrufe und Passanten, die stehen bleiben, um ihre Liebe und Sorge für seinen Sohn auszudrücken. Dani antwortet jedem geduldig. Jetzt gibt es keine Dringlichkeit mehr, denn Omri ist zu Hause.
Dani Miran wurde im Irak geboren, wanderte nach Israel aus und ließ sich in Khaltsa nieder, das später zu Kiryat Shmona wurde. Er zog nach Yesud Hama’ala, heiratete und bekam vier Kinder: Boaz, Nadav, Omri und Naama. Seine Frau starb vor 33 Jahren im Alter von 46 Jahren; Dani zog die Kinder alleine groß.
Widerständig
Miran habe in den letzten zwei Jahren oft von seinem Sohn Omri geträumt. Einige dieser Träume waren schön, »aber andere waren schreckliche Albträume, aus denen ich weinend aufwachte und mich nicht einmal mehr an den Traum erinnern konnte. Das passierte immer wieder.« Jetzt ist der Albtraum vorbei und er erlaubt sich, Freude zu empfinden. Zwei Jahre lang hatte er sich diesen Luxus nicht gegönnt. Er wusste nicht, ob sein Sohn etwas zu essen bekam, bestraft oder gefoltert wurde.
Seine Ängste waren berechtigt. Aus den wenigen Informationen, die Omri über seine Zeit in Gefangenschaft preisgab, geht klar hervor, dass er jedes Mal bestraft wurde, wenn er etwas tat, was seinen Entführern missfiel. Als er an einem heißen Tag etwa sein Hemd auszog, rügten ihn seine Bewacher, dass man in ihrer Gegenwart keine Hemden auszieht. Sie fesselten ihn und sperrten ihn in einen nur eineinhalb Meter hohen Käfig. Manchmal waren die Strafen körperlicher Natur, zum Beispiel Tritte.
»Er hat sich ihnen auf vielfältige Weise widersetzt«, erzählt Dani stolz. Als beispielsweise vor sechs Monaten das Propagandavideo der Terroristen gedreht wurde, war die erste Aufnahme für den Hamas-Kommandanten nicht emotional genug, sodass er eine zweite Aufnahme anordnete. Als auch der zweite Versuch ihn nicht zufriedenstellte, näherte sich der Kommandant Omri persönlich, spannte den Hahn einer Pistole und richtete sie auf seinen Kopf in der Hoffnung, »sein Schauspiel zu verbessern«. Omri starrte ihn an, wissend, dass der Terrorist es nicht wagen würde, zu schießen, und sagte, er könne tun, was er wolle, aber er würde keinen weiteren Take machen.
»Das ist Omri. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Ich hätte mich genauso verhalten. Seine Brüder auch. Sie haben ihre Werte und Überzeugungen, und das ist gut so.«
Omri erzählte seinem Vater ein wenig über die Bedingungen seiner Gefangenschaft, die je nach der Örtlichkeit, an der er festgehalten wurde, variierten: »An manchen Tagen hatte er eine Matratze zum Schlafen, an anderen nicht einmal das. Wenn er über der Erde war, hatte er ein Bett. Die meiste Zeit war er unterhalb der Erde. Er war nie durch Luftangriffe der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte in Gefahr. Er spürte die Erschütterungen der Bombenangriffe, aber er war nie wirklich in Gefahr.«
Während des Gesprächs klingelte das Telefon erneut. Diesmal ist es ein Lieferant, der Tefillinfür einen Soldaten bringt, der nach einer schweren Verletzung das Bewusstsein wiedererlangt und nach den Gebetsriemen gefragt hat. Dani hat beim Kauf geholfen.
Während wir eine Pause machen, überprüft er WhatsApp, wo er 1.031 ungelesene Nachrichten findet, scrollt die Timeline durch und findet Fotos von sich selbst, als er Burger für vierhundert Soldaten grillt, die aus Gaza auf Urlaub sind. »Und ich bin Vegetarier!«, lacht er. Als ob die Kampagne für die Freilassung seines Sohnes nicht genug wäre, war er überall unterwegs, half, wo er nur konnte, und hat viel erreicht.

Der Tag des Überfalls
Auf die Frage, wie es Omri gehe, antwortet sein Vater:
»Mein Eindruck ist, dass er immer noch ein bisschen euphorisch ist. Es wird mindestens ein Jahr dauern, bis er alles verarbeitet hat, was er durchgemacht hat. Er hat seine Frau, seine Töchter, seine Geschwister, seine Tante und seinen Vater vermisst. Plötzlich sieht er sie alle wieder. Er hat immer daran geglaubt, dass er unversehrt zurückkommen würde, und ich auch. Am Tag nach seiner Rückkehr hat er eineinhalb Steaks verschlungen. Am nächsten Tag ist er an den Strand gegangen. Auch ich schwebe auf Wolken. Wir sind noch nicht wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen.«
Dani erinnert sich an den Morgen des 7. Oktober 2023, als er früh aufwachte, Raketenalarme im Süden mitbekam und Omri anrief. Sein Sohn sagte ihm, sie seien an Raketen gewöhnt und er solle sich keine Sorgen machen. Dani ging hinaus in den Garten.
Eine Stunde später sah er das Massaker im Fernsehen und rief erneut an. »Omri erzählte mir, dass er von seinem Küchenfenster aus Terroristen überall im Kibbuz [Nahal Oz] sehen konnte. Er sagte, er habe seine Frau und seine Töchter in den Schutzraum gebracht und sich mit zwei Küchenmessern bewaffnet.« Während des Telefonats bat Omri seinen Vater, nicht mehr anzurufen, sondern nur noch SMS zu schicken, damit sie ruhig bleiben konnten.
Dani erinnerte sich, dass er Omri Monate zuvor vor den Risiken gewarnt hatte, so nahe an der Grenze zum Gazastreifen zu leben, doch Omri hatte ihn beruhigt und ihn darauf hingewiesen, »wie viel Militärpräsenz wir hier haben«. Niemand, so Omri, würde es wagen, hierher zu kommen.
»Er war ruhig und agierte völlig logisch. Alle zehn Minuten fragte ich nach Neuigkeiten. Um elf Uhr schickte ich erneut eine Nachricht und erhielt keine Antwort. Ich schrieb: ›Omri, ich mache mir Sorgen. Bitte sag’ mir, was los ist.‹ Nichts. In diesem Moment wusste ich, dass ich vier geliebte Menschen verloren hatte. Keine Enkelinnen. Keine Schwiegertochter. Keinen Sohn. Nach dem, was ich im Fernsehen gesehen hatte, war ich überzeugt, dass sie alle tot waren. Die Tränen kamen einfach. Selbst, wenn man versucht, nicht zu weinen, ist das die Reaktion.«
Dani saß hilflos zu Hause. Er überlegte, die viereinhalb Stunden nach Nahal Oz zu fahren, aber dann wurde ihm klar, dass er keine Waffe hatte, also nichts, was er einbringen konnte, und dass die Eliteeinheiten der IDF sicherlich schon dort waren. Um sechs Uhr am Abend teilte Lishays Mutter ihm mit, dass Omri entführt worden sei, während Lishay und die Mädchen in den Kibbuz Kramim evakuiert worden waren.
»Was für ein Moment der Freude! In einem Moment denkst du, sie sind alle tot, im nächsten sind sie am Leben. Ich begann, die Nachricht zu verdauen und dachte an Gilad Shalit, der fünf Jahre lang im Gazastreifen festgehalten wurde, und an Ron Arad, der nie aus dem Libanon zurückgekehrt ist. Ich fragte mich, was die Zukunft bringen würde. Ich wusste immer noch nicht, dass Omri nicht allein war. Ich verstand das Ausmaß der Katastrophe nicht.«
Dani wurde klar, dass er seinem Sohn nicht helfen konnte, aber er konnte seiner Schwiegertochter und seinen Enkelinnen helfen. Da Lishays Eltern im von Raketen beschossenen Sderot festsaßen, fuhr er nach Kramim. Dort erlebte er das Beste der israelischen Solidarität: Der Kibbuz öffnete seine Gästehäuser für Evakuierte, kochte, putzte, wusch Wäsche und kümmerte sich um alles. Innerhalb weniger Stunden war ein langer Tisch mit Windeln, Seife, Shampoo, Schuhen, Kleidung, Babynahrung und allem, das jemand, der mit nichts geflohen war, brauchen könnte, gedeckt.
»Ich kam zu Lishay und konnte nicht sprechen. Was hätte ich sagen sollen? Wir kümmerten uns schweigend um die Kinder. Ich wechselte Windeln und las der Älteren Geschichten vor. Wenn Lishay bei ihnen war, war sie die perfekte Mutter, als wäre nichts geschehen. Sobald sie eingeschlafen waren, ging sie nach draußen, um zu weinen und zu rauchen.«
Am Montagmorgen (der Angriff hatte zwei Tage zuvor stattgefunden) gingen Mädchen aus dem Kibbuz mit den Kindern spazieren. Das war Danis erste Gelegenheit, mit Lishay zu sprechen. Er fragte, wie Omri entführt worden war. Sie erzählte ihm, dass um elf Uhr Vormittag Terroristen mit einem aus dem Ort stammenden Teenager, Tomer Elyaz-Arava, der später ermordet wurde, an die Tür ihres Schutzraums gekommen waren. Tomer sagte Omri, wenn er die Tür nicht öffnete, würden sie ihn töten. Omri öffnete die Tür und die Terroristen brachten alle vier Mirans zum Haus der Familie Idan.
Die Mirans saßen in einer Ecke, die Idans in einer anderen. Der achtzehnjährige Maayan Idan lag auf dem Boden des Wohnzimmers und blutete aus einer Schusswunde. Um halb zwei Uhr sagten die Terroristen den Männern, sie müssten mitkommen, sonst würden alle getötet werden. Sie fesselten sie. Als Omri weggebracht wurde, rannte Roni ihm hinterher und schrie: »Papa! Papa!« Lishay hielt sie zurück und sagte zu ihrem Mann: »Omri, ich liebe dich. Pass auf dich auf. Spiel nicht den Helden.« Das war das letzte Mal, dass sie ihn sah, bis zu seiner Rückkehr.

Kinder des Lebens
Omri war 46 Jahre alt, als er entführt wurde. Kurz nach seinem 47. Geburtstag, Ende April 2024, kam der erste Lebensbeweis in Form eines Videos.
»Es war sehr emotional, wie eine Wiedergeburt. Bis dahin hatten wir nichts gehört. Ein Jahr später veröffentlichte die Hamas ein weiteres Video. Zu dieser Zeit veröffentlichten sie auch schreckliche Aufnahmen von anderen Geiseln. Wir konnten sehen, dass Omri sie überlistet hatte. Ich sah es in seinen Augen. Als er zurückkam, fragte er: ›Wirklich? Das ist dir aufgefallen?‹«
Alma war sechs Monate alt, als ihr Vater entführt wurde. Alle Meilensteine der Entwicklung eines Kindes – Krabbeln, Stehen, erste Schritte, erste Worte – erlebte sie ohne ihn. Als sie vor Omris Foto »Mama« oder »Papa« sagte, brach Danis Herz. Roni war am 7. Oktober 26 Monate alt.
»Omri hat sie großgezogen. Lishay arbeitete lange, daher war er die Hauptbezugsperson. Seine Abwesenheit war für sie sehr schwer. Sie fragte: ›Wo ist Daddy?‹ Lishay sagte, er sei auf einer Reise. Das schien vernünftig; wir dachten, es würde in zwei oder drei Wochen vorbei sein. Später fragte sie erneut und Lishay sagte, Daddy habe sich auf seiner Reise verirrt und die Leute suchten nach ihm. Schließlich sagten wir ihr, er sei im Gazastreifen, ein abstraktes Konzept.«
Drei Monate später sagte sie: »Ich erinnere mich, dass böse Menschen Daddy mitgenommen haben.« Ein paar Wochen danach: »Mama, ist Omri noch mein Vater? Er ist schon so lange nicht mehr hier. Vielleicht haben wir etwas Schlimmes gemacht und er ist deshalb weggegangen?« Vor sechs Monaten bat sie die Mädchen in ihrem Kindergarten, mit ihr nach Gaza zu fahren, um ihren Vater zurückzuholen.
Plötzlich leuchtet Omris Name auf Danis Handy auf. Er nimmt den Anruf entgegen, sein Gesicht wird weich. Er verspricht, zum Sabbatessen zu kommen. »Wir werden immer wieder Zeit finden, gemeinsam zu essen, und damit nie aufhören.« Als das Gespräch endet, erzählt er, dass Omri mit Roni gespielt und sie ein wenig genervt hat, woraufhin sie ihm scherzhaft sagte: »Wenn du so weitermachst, schicke ich dich zurück nach Gaza.« – »Stellen Sie sich das vor, sie ist viereinhalb.«
Am Ende des Interviews möchte Dani den Menschen in Israel danken. Das mag wie ein Klischee klingen, aber nicht, wenn es von diesem heldenhaften Mann kommt, so kraftvoll und doch mit Tränen in den Augen.
»Ich möchte dem israelischen Volk danken für all die Unterstützung und Solidarität bei Kundgebungen, an Kreuzungen, in Städten und auf Marktplätzen. Wie alle sagen: Unsere Stärke liegt in unserer Einheit. Mögen wir wieder vereint sein, die Meinungen der anderen respektieren und wieder ein Volk sein.«

Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. (Übersetzung von Alexander Gruber.)






