Der amerikanische Präsident hat am 25. Mai die »Nationale Strategie gegen Antisemitismus« vorgestellt – elf Tage nachdem bei einer Anti-Israel-Demonstration in Washington zur Tötung von »Zionisten« aufgerufen wurde.
Mit Anhängen und Fußnoten ist die »Nationale Strategie gegen Antisemitismus« aus dem Weißen Haus sechzig Seiten lang. Es sei die erste derartige Initiative, sagte Biden bei ihrer Vorstellung und fügte hinzu, nun liege es »an uns allen«, den Judenhass zu stoppen. »Wir müssen klar und deutlich sagen, dass Antisemitismus und alle Formen von Hass und Gewalt keinen Platz in Amerika haben«, so der Präsident. Die Strategie basiert auf vier Säulen:
- Verbesserung des Bewusstseins und des Verständnisses von Antisemitismus einschließlich seiner Bedrohung für Amerika, Erweiterung der Wertschätzung für das jüdisch-amerikanische Erbe,
- Verbesserung der Sicherheit von jüdischen Gemeinden,
- Umkehrung der Normalisierung von Antisemitismus und Bekämpfung antisemitischer Diskriminierung,
- Aufbau von gemeinschaftsübergreifender Solidarität und kollektiven Maßnahmen zur Bekämpfung von Hass.
Während der gesamten amerikanischen Geschichte hätten die verschiedenen Glaubensgemeinschaften immer zusammengestanden, heißt es in dem Text. Erwähnt werden etwa die drei Selma-nach-Montgomery-Märsche der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung unter Beteiligung von Martin Luther King des Jahres 1965. Ein weiteres Beispiel ist die Geiselnahme aus dem Januar 2022 in Colleyville, Texas, als ein Rabbi und drei Gläubige als Geiseln genommen wurden und eine benachbarte katholische Kirche den Familien der Geiseln ihre Türen öffnete, während baptistische und muslimische Nachbarn hinzueilten, um ihre Hilfe anzubieten. Und als ein Brandstifter 2017 in Victoria, Texas, die einzige Moschee der Stadt niederbrannte, habe der dortige Rabbi den Leitern der Moschee Schlüssel zur Synagoge überreicht.
»Warum unterstützt du die dreckigen Juden?«
Doch der Alltag für Juden in den USA ist vielfach von Bedrohungen, Beleidigungen und immer wieder auch von antisemitisch motivierter Gewalt geprägt – zumindest dann, wenn sie als Juden zu erkennen sind. Das betrifft in erster Linie diejenigen, die anhand ihrer traditionellen Kleidung als orthodoxe Juden sichtbar sind. Aber auch Unterstützer Israels sind davon betroffen.
Vor wenigen Tagen berichtete die New York Post über den Fall von Blake Zavadsky, der in Brooklyn angegriffen wurde, weil er einen Kapuzenpullover mit dem Emblem der israelischen Verteidigungsstreitkräfte IDF trug. »Warum unterstützt du die dreckigen Juden?«, fragte der Täter. »Was machst du in meinem Viertel? Du legst dich mit den Killern an!« Dann forderte er Zavadskyauf, seinen Pullover auszuziehen. Als dieser sich weigerte, schlug er zu. Dank Aufnahmen von Überwachungskameras konnte der Täter drei Wochen später verhaftet werden und wurde nun zu sechzig Tagen Gefängnis und drei Jahre Bewährung verurteilt.
»Der hasserfüllte und nicht provozierte Angriff, den der Angeklagte heute zugegeben hat, hat nicht nur ein Opfer verletzt, sondern auch eine ganze Gemeinde erschüttert«, sagte Staatsanwalt Eric Gonzalez in einer Erklärung. »Seine Verurteilung, seine Gefängnis- und seine Bewährungsstrafe sollten eine Botschaft aussenden, dass diese Art von Intoleranz ernsthafte Konsequenzen hat.«
Ein häufiger Tatort antisemitischer Beleidigungen und Übergriffe sind Universitäten und Studentenwohnheime. Jüdische Studenten und Lehrkräfte würden auf dem Universitätscampus verhöhnt und ausgegrenzt, »oft wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Ansichten über den Staat Israel«, heißt es in dem Regierungsbericht: »Wenn Juden wegen ihres Glaubens oder ihrer Identität zur Zielscheibe werden, wenn Israel wegen antijüdischen Hasses herausgegriffen wird, dann ist das Antisemitismus. Und das ist inakzeptabel.«
In den vergangenen Monaten hätten Prominente, Sportler und Politiker ihre einflussreichen Plattformen genutzt, um den Holocaust zu leugnen, Fanatiker zu unterstützen und antisemitische Verschwörungstheorien zu verbreiten. »Diese Ansichten sind nicht nur verwerflich, sie sind gefährlich.« Obwohl nicht namentlich genannt, ist hier sicherlich vor allem der Rapper Ye, ehemals Kanye West, gemeint. Am 8. Oktober letzten Jahres schrieb er in einem mittlerweile gelöschten Tweet, er gehe in »defcon 3 … gegenüber Juden«. Beim amerikanischen Militär bedeutet »defcon 3« erhöhte Alarmbereitschaft. In der Folge hatte die jüdische Bürgerrechtsorganisation ADL nach eigenen Angaben eine Vielzahl antisemitischer Vorfälle verzeichnet, bei denen mit den Worten »Ye is right« (»Ye hat Recht«) positiv auf Wests Äußerungen Bezug genommen wurde.
»Wer Israel unterstützt, zahlt einen Preis«
Obwohl Antisemitismus nach wie vor ein »weltweites Problem« darstelle, sei der Anwendungsbereich dieser nationalen Strategie national, heißt es in dem Bericht.
»Die Strategie konzentriert sich auf die Bekämpfung der Bedrohung und der Erscheinungsformen von Antisemitismus in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die US-Regierung wird unter der Leitung des Außenministeriums weiterhin gegen Antisemitismus im Ausland und in internationalen Foren vorgehen, einschließlich der Bemühungen, den Staat Israel zu delegitimieren.«
Die Autoren des Textes betonen ihren »tiefen Respekt« vor den demokratischen Traditionen Amerikas, »einschließlich der freien Meinungsäußerung und der durch den ersten Verfassungszusatz geschützten Redefreiheit«. »Wir tun dies auch mit einem unerschütterlichen Engagement für das Existenzrecht des Staates Israel, seine Legitimität und seine Sicherheit. Darüber hinaus anerkennen und würdigen wir die tiefen historischen, religiösen, kulturellen und sonstigen Bindungen, die viele amerikanische Juden und andere Amerikaner zu Israel haben.«
Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2022, so die Autoren, sorgten sich mehr als fünfzig Prozent der jüdischen Studenten, »dass andere ungerecht über sie urteilen, weil sie Juden sind«. Ebenfalls mehr als fünfzig Prozent hätten das Gefühl, »dass sie einen sozialen Preis zahlen, wenn sie die Existenz Israels als jüdischen Staat unterstützen«.
In diesem Zusammenhang erwähnt der Bericht Hakenkreuze und antisemitische Graffiti, die auf zahlreichen College-Campus entdeckt wurden. Jüdische Studenten, Lehrkräfte und Verwaltungsangestellte, so heißt es weiter, »wurden wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Ansichten über Israel verspottet, ausgegrenzt und manchmal diskriminiert«. Betont wird, dass sich all jene frei und sicher fühlen müssten, sicher »vor Gewalt, Belästigung und Einschüchterung auf ihrem Campus«. Viel zu viele hätten »dieses Gefühl der Sicherheit aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Ansichten über Israel nicht«.
Als Beispiel nennt der Bericht eine Lehrassistentin der Universität von Vermont. Über ihren Fall war prominent berichtet worden. Sie hatte im Internet damit geprahlt, jüdischen Studenten Leistungspunkte vorzuenthalten bzw. abzuziehen. Ferner soll sie den Diebstahl einer israelischen Flagge aus dem Haus eines jüdischen Studenten gefeiert und das Wort »Kristallnacht« über ein Foto einer zerstörten Ladenfassade mit hebräischer Schrift geschrieben haben. Die Times of Israel schilderte den Vorgang:
»Die Lehrassistentin sagte in Online-Posts, es sei ›gut und lustig‹, ›Zionisten keine Punkte für die Kursteilnahme zu geben‹ und erklärte, jüdischen Schülern Punkte abzuziehen, weil sie ›auf Birthright-Touren gehen‹ und ›ich eure Ausstrahlung im Allgemeinen hasse‹. In mehreren Beiträgen feierte sie auch ›das Mobbing von Zionisten‹ im Internet und sagte, wer auch immer die israelische Flagge gestohlen habe, sei ›cool und besonders‹.«
Der Leitung der Universität wurde vorgeworfen, auf diese Vorfälle nicht angemessen reagiert zu haben. Daraufhin gab es eine Bundesuntersuchung vonseiten des Office for Civil Rights (Bürgerrechtsbüro) des Bildungsministeriums. Dass Washington sich einschaltete, wurde von jüdischen Gruppen als Präzedenzfall im Kampf gegen den Antisemitismus begrüßt.
Schutz vor Gewalt
Die Anti-Defamation League (ADL) verzeichnete im Jahr 2021 359 Fälle von israelbezogenem Antisemitismus an amerikanischen Universitäten. Darunter waren ein Fall von körperlicher Gewalt, elf Fälle von Vandalismus, neunzehn von verbaler Schikane sowie 143 Anti-Israel-Veranstaltungen, 165 Proteste und Aktionen sowie zwanzig BDS-Resolutionen.
Geschürt wird der Hass laut dem ADL-Bericht vor allem von den Organisationen Students for Justice and Palestineund Jewish Voice for Peace. Ein wichtiger Teil der nationalen Strategie gegen Antisemitismus ist der Schutz vor Gewalt. Zur Verbesserung der Sicherheit bittet die Regierung den Kongress um einen Etat von 360 Millionen Dollar für das Nonprofit Security Grant Program (NSGP) des Ministeriums für Katastrophenschutz. Dabei handelt es sich um physische Schutzmaßnahmen für Gebäude, die zum Ziel von Terroranschlägen werden könnten. Die Synagogen, die das Programm bislang nicht in Anspruch nehmen, möchte die amerikanische Regierung ansprechen und ermuntern, dies in Zukunft zu tun.
Welche Antisemitismusdefinition?
Die nationale Strategie hebt zudem die Bedeutung der Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Association (IHRA) hervor, was im Vorfeld umstritten war: Wie die Times of Israel berichtete, hatten »progressive Gruppen« auf den Verzicht dieser Definition gedrängt. Aus Sorge, die Biden-Regierung könnte dem Druck nachgeben, hatten sich 500 amerikanische Rabbiner in einem Brief an den Präsidenten gewandt, in dem sie betonten zu glauben, »dass die Annahme einer Definition, die weniger umfassend ist als die IHRA-Definition, ein Rückschritt für diese Regierung wäre und unsere Arbeit vor Ort erheblich erschweren würde«.
Das Strategiepapier erwähnt nun, Amerika habe die Definition »angenommen«, gleichfalls aber auch die Antisemitismusdefinition der Nexus Task Force an, welche »wertgeschätzt« wird. Die Nexus Task Force ist ein Projekt, das vom Knight Program in Media and Religion an der Annenberg School of Communication and Journalism der University of South California initiiert wurde. Die Nexus-Definition unterscheidet sich insofern von der IHRA-Definition, als sie behauptet, »Opposition« gegen den »Zionismus«, also das nationale Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes, sei nicht notwendigerweise antisemitisch.
Die Zionist Organisation of America (ZOA) äußerte in diesem Zusammenhang harsche Kritik an der Nationalen Strategie des Weißen Hauses. Diese habe »mehrere alarmierende, schädliche Aspekte«, verlautbarte ZOA-Präsident Morton Klein in einer Erklärung. Laut Klein sei es »besonders besorgniserregend«, dass sie die »weiche Formulierung« verwendet, wonach die USA die IHRA-Definition »angenommen« haben, während die Biden-Regierung »stärker« betone, dass sie die alternative Nexus-Definition von Antisemitismus »begrüßt und wertschätzt«. Dies bezeichnete Klein als »gefährlich«. Seiner Meinung nach »schützen« sowohl die Nexus- als auch die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA-Definition) jenen Antisemitismus, »der sich als Hass auf den jüdischen Staat und den Zionismus maskiert«.
Eine von vielen Formen der »Diskriminierung«?
Zudem rügte Klein, dass in der Nationalen Strategie der Islamismus als Bedrohung der Juden nicht einmal erwähnt werde. Das stimmt tatsächlich – und wirkt, als hätte es Al-Qaida, die Anschläge vom Elften September 2001 und den Islamischen Staat nie gegeben. Hingegen ist in dem Papier nicht weniger als siebzehnmal von »Islamophobie« die Rede, und zwar in stereotypen, gleichlautenden Formulierungen: Es gelte, gegen »antisemitische, islamophobe und verwandte Formen von Diskriminierung« vorzugehen, ist immer wieder zu lesen.
Dass sie Antisemitismus für eine von vielen Formen der »Diskriminierung« halten, wirft die Frage auf, ob die Autoren des Berichts – und damit die Regierung – tatsächlich verstanden haben, worum es geht. Merkwürdig ist zudem, dass wieder einmal ein Dokument, das sich seinem Namen nach dem Kampf gegen Antisemitismus widmen soll, mit allerlei weiteren Themen befrachtet wird, so wichtig diese auch sein mögen.
Das war schon bei einer Resolution gegen Antisemitismus der Fall, die das Repräsentantenhaus im Jahr 2019 mit der Mehrheit der demokratischen Abgeordneten verabschiedete. Im Text der Resolution ging es neben Antisemitismus auch um »hasserfüllte Äußerungen von Intoleranz», »antimuslimische Diskriminierung« und »Engstirnigkeit gegen Minderheiten». Ausdrücklich erwähnt wurden unter anderem die Diskriminierung von Amerikanern japanischer Abstammung während des Zweiten Weltkriegs und Vorurteile gegenüber Muslimen und Katholiken.
Die Frage ist nicht, ob solche Arten von Feindseligkeit und Diskriminierung nicht ebenfalls zu verurteilen wären, sondern weshalb dies ausgerechnet in einer Resolution gegen Antisemitismus zu geschehen hatte. Dass nun auch in der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus immer wieder von »antisemitischen, islamophoben und verwandten Formen von Diskriminierung« die Rede ist, deutet darauf hin, dass die Demokratische Partei von Präsident Biden nicht in der Lage ist, sich auf eine Erklärung zu einigen, in der es um Antisemitismus geht – und um nichts anderes. Der Bericht relativiert an einer Stelle geradezu Gewalttaten gegen Juden, indem sie als Teil eines breiteren gesellschaftlichen Trends rassistisch oder antireligiös motivierter Übergriffe gedeutet werden: »Gewalttätige Angriffe gegen Juden nehmen zu«, heißt es dort, und zwar »zu einer Zeit, in der Hassverbrechen und andere gezielte Gewalttaten gegen viele Gemeinschaften zugenommen haben«.
Es scheint, als gönnten Teile der Regierung und der Demokratischen Partei es den Juden nicht, dass sich eine politische Erklärung ausschließlich dem Antisemitismus widmet. Sollte dies tatsächlich der Beweggrund sein, wäre dies: Antisemitismus. Es wäre ironisch, würde dieser ein Dokument beeinflussen, das ihm eigentlich den Kampf ansagen soll.