Erneut warnen die Vereinten Nationen vor einer humanitären Katastrophe in Syrien. Genau das haben sie vor einem Jahr schon gemacht – geändert hat sich nichts.
Zum Jahreswechsel bestimmt Syrien zwar nicht die Medienberichterstattung, aber wohl kaum jemand kommt um die schrecklichen Berichte herum: Über 200.000 Menschen sind in Idlib auf der Flucht. Sie wissen nicht wohin, die Grenze zur Türkei ist zu, die Aufnahmekapazitäten bestehender Lager in ruhigeren Regionen komplett erschöpft. Lange Schlangen von Autos bilden sich, mit den Menschen irgendwie zu entkommen versuchen. Auf sie wartet: nichts. Ein Platz in der Kälte unter Olivenbäumen bestenfalls.
Die medizinische Versorgung ist zusammengebrochen, alle noch in der Region existierenden Krankenhäuser sind zerbombt, Nahrung kommt kaum noch über die Grenze – und wenn, ist sie für die meisten der drei Millionen Menschen, in der Region zu Leben gezwungenen sind, kaum erschwinglich.
Wie nennt man so etwas? Richtig: Eine – ganz und gar menschengemachte – humanitäre Katastrophe, an der sich nichts ändern wird, selbst wenn einige westliche Politiker oder Vertreter der UNO ein paar mahnende Worte sprechen sollten.
Neu ist an dieser Lage nichts, wie ein ganz einfacher Test zeigt: Von wann ist dieser Artikel? Von letzter Woche? Aus dem letzten Monat? Nicht ganz, er ist mehr als ein Jahr alt:
Dieser dagegen ist eine Woche alt und erschien pünktlich zu Weihnachten:
„Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.“
Dieses Zitat aus Walter Benjamins Text „Zentralpark“ ist eine der wenigen Dinge, die einem nach fast einem Jahrzehnt des Mordens, Bombens und Folterns, in dem niemand den Schlächtern auch nur in den Arm zu fallen plante, zu Syrien noch einfallen.
Ganz ähnlich formuliert es ebenfalls zu Weihnachten Karrem Shaheen voller Verzweiflung und Resignation in einem Essay mit dem Titel „In diesem Jahrzehnt des Krieges in Syrien wurde jede Regel gebrochen, die wir für sakrosankt gehalten haben“:
„Die nächsten Jahre in Syrien sind schwer vorherzusagen, genau weil der Konflikt all die Mythen zerstört hat, die wir über uns selbst geglaubt haben: wie einfühlsam wir sind, wie ernst wir als internationale Gemeinschaft unsere Verantwortung für den Schutz von Zivilisten nehmen, unseren Glauben an Gerechtigkeit und an ein gemeinsames Schicksal.
All das wurde zerstört, als in Syrien die Träume und Rechte eines gesamten Volkes zerstört wurden, in Würde, Frieden und Wohlstand zu leben.
Auch wenn das Gerangel um die Überreste des Landes noch fortdauert, das Erbe dieses Jahrzehnt wird dauerhaft sein. In Syrien wurde die Grabinschrift für das kollektive Gewissen der internationalen Gemeinschaft in Stein gemeißelt.“
„Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe“, schreibt Benjamin weiter. Ob es die Rettung ist, sei dahingestellt. Die Courage allerdings, die junge Menschen in Syrien immer noch zeigen, auch in (wieder) vom Regime kontrollierten Gebieten, , wenn sie unter Einsatz ihres Lebens gegen das Dauerbombardement in Idlib demonstrieren, lässt einen zumindest nicht ganz ohne Hoffnung zurück:
„Friedliche Demonstranten sind am Freitagabend in Nahtah auf die Straßen gegangen, um ihre Solidarität mit den Bewohnern von Idlib zu zeigen und die Freilassung der Gefangenen in den Gefängnissen des Assad-Regimes zu fordern. ‚Befreit die Gefangenen!‘, so der Sprechchor laut einem Bericht der Horan Free League.
Am Montagabend wurde über eine ähnliche Demonstration in der Stadt Tafas berichtet.
Im vergangenen Monat zerrissen Demonstranten (…) Bilder und Flaggen des Assad-Regimes, die sie sich aufzuhängen geweigert hatten. Sie drohten weitergehende Schritte an, sollten die Milizen Assads die Gefangenen nicht freilassen.
Das Syrian Network for Human Rights (SNHR) schätzt, dass seit dem Beginn des Aufstands im März 2011 1.2 Millionen Syrer festgenommen und inhaftiert wurden. Mindestens 130.000 befinden sich noch immer in Haft oder sind in Händen des Assad-Regimes spurlos verschwunden.“